Oje, diese Wut! Oder: Mehr Mut zur Wut

von | 05.02.2023 | Bilderbücher, Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Die Gefühle sprudeln über, der Kragen platzt und – peng! Da ist die Wut. Wir alle kennen sie und doch können nicht nur Kinder oft schwer mit ihr umgehen. Worteweberin Annika hat sich ein Sachbuch, ein tolles und ein weniger gutes Bilderbuch zum Thema angesehen.

Mitten in der Nacht trete ich auf eine Murmel, obwohl ich am Abend darum gebeten hatte, dass die Murmeln aufgeräumt werden – peng! Meine Mama sagt, ich darf nicht noch ein Kaubonbon essen – peng! Die Straßenbahn macht mir die Tür vor der Nase zu – peng! Es gibt viele Gründe, um wütend zu werden. Das gilt für Erwachsene genauso wie für Kinder. Während Kinder ihre Wut noch nicht kontrollieren – man spricht auch von regulieren – können, haben wir Erwachsenen Strategien entwickelt, die manchmal funktionieren – und manchmal vielleicht auch nicht.

Wut tut gut

„Das macht mich immer so wütend, und das will ich doch gar nicht, das ist doch falsch!“, sagte letztens jemand zu mir. Ich stutzte. Bevor ich mich näher mit dem Thema Wut und Emotionen beschäftigt hatte, hätte ich den Satz wahrscheinlich unterschrieben. Ist Wut nicht total blöd? Warum Wut ihre Berechtigung hat und wie man achtsam mit ihr umgehen kann, erzählt Kathrin Hohmann im Sachbuch „Gemeinsam durch die Wut“. Darin erklärt sie:

„Wir dürfen uns trauen, jedes Gefühl in seiner Form anzuerkennen und da sein zu lassen. Bei uns selbst, wie bei anderen auch.“ („Gemeinsam durch die Wut“, S. 23)

Wut ist ein Indikator für Bedürfnisse, die oft unter der Oberfläche liegen. Die Spitze des Eisbergs sozusagen. Wenn mal wieder der Kragen platzt, lohnt es sich also, genau hinzuschauen, woher die Gefühle kommen. Wahrscheinlich geht es nicht immer nur um die Murmeln, die Kaubonbons oder die Straßenbahn. Kinder brauchen dafür Unterstützung von Erwachsenen, die sie begleiten. Wütet das Kind, weil es eigentlich kuscheln will und das Bedürfnis gerade nicht formulieren kann? Vielleicht können wir aus dem Ärger sogar Energie ziehen, um die Situation zu verbessern? Wut muss nicht schlecht sein, im Gegenteil: Sie kann uns sogar guttun.

Ist stampfen falsch?

Anderen wehzutun, weil wir gerade Rot sehen, ist natürlich keine Lösung. Aber gerade bei Kindern geht Wut oft mit Aggression einher. Ist hauen falsch? Und stampfen? Kinder müssen die Selbstregulationsfähigkeit erst trainieren, was viele Jahre dauert. Ihre Aggression zeigt ihre Notsituation und fordert Erwachsene auf, ihnen zu helfen. Sie zu verurteilen, hilft ihnen natürlich nicht.

Das ist für mich der Knackpunkt an Bilderbuch Nummer eins, „Der Stampfosaurus“ von Rachel Bright. Hier lernen wir einen kleinen Dino kennen, der mächtig wütend wird. Sein kleiner Bruder wirft ihm ein Kissen an den Kopf – peng! Die Mutter hat das falsche Frühstück zubereitet – peng! Er stößt sich den Fuß – peng! Stampfo platzt der Kragen, er brüllt und stampft und erschreckt dadurch seine Freunde. Dann taucht ein Flattosaurus auf und hat einen guten Rat. Er lehrt den wütenden Stampfo, tief durchzuatmen.

„Dann hol tief Luft, und atme aus …
mach einen Schritt zurück.
Betrachte nun mit neuem Blick,
was dich zutiefst bedrückt.“

Soweit, so gut. Allerdings hatte Stampfo auch davor einen zwar nicht perfekten, aber meiner Meinung nach altersgerechten und gesellschaftskonformen Umgang mit Wut gefunden: Er stampfte und brüllte. Die Wut musste raus.

Stampfo und das Burnout

Klar, durchatmen ist eine super Möglichkeit, um Wut zu regulieren. Der Stampfosaurus lernt aber auch, seine Gefühle zu unterdrücken. Er denkt nämlich nach dem Rat des Flattosaurus, er hätte einfach mit seinem Bruder spielen und lachen müssen, auch wenn er sich in dem Moment nicht danach gefühlt hatte. Ist das so eine gute Idee? Aus unterdrückten Gefühlen werden angestaute Emotionen und die wollen irgendwann raus. Vielleicht in einer Woche, wenn der kleine Bruder wieder Quatsch macht, vielleicht in 20 Jahren, wenn Stampfo mit einem Burnout zu kämpfen hat oder sich nicht traut, ernsthafte Beziehungen mit anderen Dinos einzugehen.

„Aus Sorge vor Gewalt werden Aggressionen und Wutanfälle verboten und tabuisiert. Dies kann zur Folge haben, dass ein Mensch gewalttätig wird oder selbstdestruktiv, sich also selbst abwertet, ablehnt oder verurteilt für das, was er fühlt.“ („Gemeinsam durch die Wut“, S. 33)

Stattdessen sollte Stampfo sich nach dem Durchatmen doch vielleicht lieber fragen, woher seine Wut kommt. Braucht er morgens mehr Ruhe und Nähe? Kann er seiner Familie erklären, was ihm helfen würde? Die Situation und damit die Bedürfnisse wegzuatmen, ist langfristig zwar nett für die anderen Dinos, tut Stampfo aber keinen Gefallen. Vor allem, dass Stampfos Umgang mit der Wut problematisiert wird, finde ich in diesem Bilderbuch kritisch:

„Er wusste, dass es falsch war,
doch half ihm bloß noch schrei’n.“

Auch wenn die kleinen Dinos in den Illustrationen von Chris Chatterton nett anzusehen und Kindermagnete sind, ist dieses Buch bei uns (übrigens auch bei meinem „Wutzwerg“) durchgefallen.

Himbeerbrausenfreude und Eis-Wut

Im Bilderbuch „Oje, mein Eis“ sorgen ein heruntergefallenes Eis – wohlgemerkt das weltallerbeste Eis überhaupt – und übersprudelnde Himbeerbrause für große Wut. Kasimir unternimmt in der Geschichte von Jana Heinicke einen Ausflug mit seinem „Honigopi“. Der Junge ist sich sicher, dass heute ein ganz besonderer Tag wird, immerhin fühlt er die sprudelnde Himbeerbrausenfreude im ganzen Körper.

Er darf sich ein Eis nach seinen Wünschen aussuchen, doch es fällt während der Dampferfahrt ins Wasser und weder der Rettungsschwimmer noch die Hubschrauberpilotin machen Anstalten, es zu retten. Was Kasimir aber besonders wütend macht, ist die Reaktion seines Opas: Als dieser fragt, ob Kasimir vielleicht stattdessen einfach einen Kuchen oder ein Falafel möchte, fühlt Kasimir sich unverstanden.

„Kein Mensch will irgendein neues Eis, wenn das weltallerbeste Eis gerade den Bach hinuntergeht.“

Wut gehört dazu

An diese Situation können sowohl Kinder als auch Erwachsene anknüpfen – wie oft habe ich selbst nicht auch schon reagiert wie der Opa. Kasimirs Gedanken in der Situation halten damit auch Vorleser*innen einen Spiegel vor. Schließlich findet der Großvater einen besseren Weg, um mit Kasimirs Wut umzugehen, und begleitet seine Gefühle liebevoll. Darin kann sich kurz darauf auch das Kind üben, als der Opa selbst in Wut gerät. „Oje, mein Eis“ zeigt, dass alle Menschen Gefühle haben und es nicht immer leicht ist, mit ihnen umzugehen. Die Wut wird hier nicht verteufelt und die wichtige Botschaft noch dazu in eine lustige Geschichte „geschmuggelt“, die wir immer wieder lesen können.

„Oje, mein Eis“ ist ein Bilderbuch, das zeigt, dass Freude, aber auch Wut zum Alltag dazugehören und dass liebe Worte und eine Umarmung Wunder wirken. Hier muss nichts weggeatmet werden, denn über ein heruntergefallenes Eis darf man sich schon einmal ärgern. Das Bilderbuch ist bei uns binnen kürzester Zeit zum Favoriten avanciert. Das liegt an der super Geschichte und auch an den Illustrationen von Nini Alaska, die eine tolle, klischeefreie Sommeratmosphäre (inklusive einer heiß geliebten Schwarzen Meerjungfrau) aufs Papier zaubert.

Gemeinsam durch die Wut. Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt. Kathrin Hohmann. Edition Claus. 2021.

Der Stampfosaurus. Rachel Bright. Illustration: Chris Chatterton. Aus dem Englischen von Pia Jüngert. Magellan. 2022. Ab 3 Jahren.

Oje, mein Eis. Jana Heinicke. Illustration: Nini Alaska. Magellan. 2022. BK-Altersempfehlung: Ab 2,5 Jahren.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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