Perfektion – Was ist das?

von | 19.09.2014 | Belletristik, Buchpranger

Wenn man sich nicht einmal auf die Zeit verlassen kann, worauf dann? Als 1972 der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt werden, beginnt das scheinbar perfekte Leben des elfjährigen Byron aus den Fugen zu geraten…

Zwei Sekunden sind nicht viel, sollte man meinen, aber für Byron Hemmings bedeuten sie die ganze Welt. Denn gerade in dem Moment, als an der Zeit herumgespielt wurde, beginnt das Unheil. Byrons Mutter verursacht einen Autounfall, in den ein kleines Mädchen verwickelt ist, doch außer ihm scheint niemand zu glauben, was vorgefallen ist. Bald scheint seine Mutter die Familie nicht mehr wie gewohnt, nämlich perfekt, zusammenhalten zu können: Sie hat Geheimnisse und benimmt sich immer seltsamer, während der strenge Vater immer öfter abwesend ist. Mit seinem besten Freund James versucht Byron, das Chaos zu bewältigen. Dabei fragt er sich, wem er die Schuld daran geben soll, dass sein gewohntes Leben auseinanderbricht. Seiner Mutter, sich selbst oder doch den zwei Sekunden?

Vierzig Jahre später verbringt Jim sein Leben zwischen seiner Arbeit in einem Café und den seltsam anmutenden Ritualen seiner Zwangsstörung. Er weiß, wenn er seine Rituale nicht perfekt durchführt, geschieht den Menschen in seiner Umgebung etwas Schlimmes. Dabei verschließt er sich immer mehr in seiner eigenen Welt. Doch Jim will über seine Vergangenheit nicht nachdenken. Bis er der lauten Eileen begegnet, die in ihrem Wesen genau sein Gegenteil ist. Bald wird klar, dass auch Jim nicht von den Ereignissen verschont geblieben ist, die von den zwei Sekunden ins Rollen gebracht wurden.

Was ist Perfektion? Gibt es sie überhaupt?

Je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto erschreckender erscheint das Bestreben der Figuren nach Perfektion. Denn in ihren Fassaden bilden sich Risse, die immer weiter aufbrechen. Darunter treten verdrängte Vergangenheiten, Unzufriedenheiten, Feindseligkeiten und Ängste zum Vorschein.
Gerade wenn man als Leser denkt, man weiß, wie die Geschichte weitergehen muss, vollzieht sie eine neue überraschende Wendung. Eine Wendung, die zwar subtil daherkommt, aber weitreichende Konsequenzen hat. Je weiter sich das Schicksal von Byron und Jim entspinnt, umso größer werden die Dimensionen der Ereignisse, die die beiden Leben miteinander verbinden.

Rachel Joyce, die auch schon mit „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ die Leser berührt hat, liefert mit „Perfect“ ein leises, aber sehr spannendes Buch voller Poesie und Philosophie ab. Dabei wird die Spannung fast vollständig durch die Figuren erzeugt, denen hier Leben eingehaucht wird. Unglaublich gut beobachtet, wenngleich auch manchmal etwas überzeichnet, treten diverse Menschentypen auf den Plan, die einen Schnitt durch die Gesellschaft abbilden. Subtil und feinfühlig wächst die Spannung allein durch das Zusammentreffen verschiedener Menschen. Es braucht keine Hollywood-Action, um Konflikte und ganz persönliche Tragödien darzustellen. Die Gefühle lassen sich auch still vermitteln.

„Perfect“ ist ein ideales Buch für lange Zugfahrten, bei denen man auch mal grübelnd aus dem Fenster schauen kann. Denn wenn man als Leser immer tiefer in Byrons und Jims Leben gezogen wird, fragt man sich unweigerlich, was denn Perfektion ist: Eignet man sie sich an? Kann man sie langfristig aufrechterhalten, oder ist sie etwas Flüchtiges: Ein Ding von Sekundenbruchteilen? Und wie geht man damit um, wenn plötzlich nichts mehr perfekt zu sein scheint?

Maike

Perfect (Deutsch: Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte), Rachel Joyce, Verlag: Doubleday, 2013 (Deutsch: FISCHER Krüger, 2013)

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1 Kommentar

  1. Avatar

    Hat dies auf amethyststurm rebloggt und kommentierte:
    Manchmal bekommt man ein Buch aus heiterem Himmel und dazu überhaupt keine vorgefesigte Meinung. Dass es auch mal gut sein kann, nicht von einem Buch zu wissen und zu erwarten, hat sich diese Woche bei „Perfect“ von Rachel Joyce gezeigt.
    Erst war ich skeptisch bei einem Buch, das u.a. von der Daily Mail gelobt wird, aber plötzlich hatte ich die fast 450 Seiten innerhalb von drei Tagen durchgelesen – ich konnte, was neuerdings eher selten bei mir vorkommt, das Buch kaum aus der Hand legen…

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