Pseudo-Nachruf auf Grass

von | 07.06.2015 | Gedankenkrümel, Kreativlabor

Ein später Nachruf, nachzusenden an Herrn Günter Grass, irgendwo in den Reihen der literarisch Schaffenden im Nachleben.

Sehr geehrter Herr Grass,

es ist durchaus unüblich Toten noch einen Brief ins Jenseits nachzusenden, aber leider hatte ich keine Gelegenheit, Sie zu Lebtagen persönlich zu treffen. Ich hoffe, Sie fühlen sich in Ihrer Totenruhe nicht von diesem Nachhall der Welt gestört.

Dass Sie einer der Großen der Nachkriegszeit werden würden, ahnte am Tag Ihrer Geburt am 16. Oktober 1927 noch niemand. Erst zwanzig Jahre später, mit der Gruppe ’47 sollte Ihr Ruhm besiegelt werden. Sie wirkten bereits damals bestimmend in den literarischen Kreisen mit, und hatten Ihr Romandebüt 1959 mit „Die Blechtrommel“. Sie veröffentlichten in den folgenden Jahren weiter – etwa „Das Treffen in Telgte“, das gern als Schlüsselroman auf doppelter Ebene gelesen wird. Einerseits verarbeiten Sie darin, so sagt man, die Erlebnisse der Nachkriegszeit, als die Gruppe ’47 sich unter Hans Werner Richter darum bemühte, die diskreditierte Sprache neu zu besetzen, freizumachen vom nationalsozialistischen Gedankengut. Es gelang Ihnen nicht ganz – doch die Hommage an die Gruppe zeichnet sich in der Charakterisierung der barocken Dichter, die sich im Roman nach dem Dreißigjährigen Krieg in Telgte treffen, ist unverkennbar.
Ihnen wird literarisches Genie nachgesagt – 1999 bestätigte sich dies für Sie durch einen Literatur-Nobelpreis.

Nun, ich schreibe Ihnen eigentlich aus folgendem Anliegen: ein Nachruf zu Ihnen soll her. Es wäre gut, wenn ich es schaffte, löblich von Ihnen zu sprechen und Ihre literarische Größe noch etwas zu stilisieren, die Kleinheiten darin zu kaschieren. Oder ist dies nicht der Brauch bei Nachrufen?

Ein Bekenntnis: Bis zum Beginn meines Studiums hatte ich nichts von Ihnen, noch von der Gruppe ’47 gehört, noch von Vorwürfen zu Aktivitäten zu Zeiten des Nationalsozialismus Ihrerseits, für die Sie kritisiert wurden. (Egal, welche Rolle Sie spielten: eine mussten Sie einnehmen als Teilnehmer an der zeitgenössischen Geschichte.) Vermutlich hätte ich außerhalb universitärer und schulischer Kreise auch nicht weiter darüber nachgedacht, aber nachdem ich mich, bewaffnet mit Schlüsseln und Schloss durch „Das Treffen in Telgte“ bewegt hatte, konnte ich mich Ihnen nicht mehr entziehen. Eines bleibt bewundernswert: Wie Sie mit ihrer Situation in und nach dem Krieg literarisch umgehen.

Hochachtungsvoll
Wortklauberin Erika

Illustration: Aaron

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Ich werde mir in Zukunft angewöhnen, Ihre Artikel ganz genau durchzulesen. Leider überfliege ich manches in der Eile und so entgeht mir dann hin und wieder eine wichtige Bemerkung.

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