Was geschah auf dem Dach der Welt?

von | 07.01.2016 | Belletristik, Buchpranger

Simmons legt mit „Der Berg“ ein spannend erzähltes Abenteuer vor, das ein wenig Anlauf braucht. Hat man diesen aber überstanden, mag man den Roman nicht mehr aus der Hand legen. – Von Bücherhorterin Claudia

Der sich im Himalayagebirge befindliche Mount Everest gilt mit seinen 8848 Metern als der höchste Berg der Welt. Die Besteigungsgeschichte dieses sogenannten Qomolangma beginnt in den 1920er Jahren. Nachdem der Dalai Lama 1921 der Royal Geographical Society erstmals die Genehmigung zur Besteigung des Berges ausgesprochen hatte, finanzierte diese mehrere Expeditionen mit dem Ziel der Erstbesteigung des Berges.

Jedoch blieb jahrelange konkurrierenden ambitionierten Bergsteigern Jahrzehntelang verwehrt, was schließlich 1953 erstmals einer Expedition unter dem Briten John Hunt gelang. Der Triumph, das Dach der Welt vor allen anderen Nationen betreten zu haben, ging an die Briten.
Zu den gescheiterten Vorgängern gehören George Mallory und Andrew Irvine, die 1924 von ihrem Besteigungsversuch nicht zurückkehrten. Um den Expeditionsverlauf ihres Vorhabens drehen sich einige Spekulationen, denn es ist unklar, ob die beiden nicht doch den Gipfel erreicht haben könnten.

Um diese historischen Ereignisse spinnt Dan Simmons seinen erstmals 2014 vom Heyne Verlag in deutscher Sprache verlegten Roman „Der Berg“. Bevor es aber wirklich um besagten Berg geht, führt Simmons zunächst auf geschickte Weise seinen Protagonisten ein. Der Leser wird im die Ursprünge des Romans erläuternden Prolog über Simmons‘ Begegnung mit dem Neunundachtzigjährigen krebskranken Jacob Perry unterrichtet. Im Rahmen seiner Recherchen interviewt Simmons Perry bezüglich seiner Bergsteigerkarriere. Mit dem Hinweis, er habe das eigentliche Abenteuer Perrys erst durch dessen Hinterlassenschaft in Form von dicht beschriebenen Notizheften erfahren, zieht Simmons den Leser in seinen Bann. Auf den folgenden über 700 Seiten gibt Simmons Perrys Notizen in nahezu unveränderter Form wieder.

Verschwunden auf dem Berg

Perry, ein junger Freikletterer und seine Freunde, der „Diakon“ Richard Davis Deacon und „J.-C.“ Jean-Claude Clairoux, befinden sich gerade auf einer Klettertour auf dem Matterhorn, als sie vom Verschwinden George Mallorys und Andrew Irwines auf dem Mount Everest erfahren. Als erfahrener Bergsteigerkollege und Bekannter der beiden Männer kann Deacon nicht fassen, dass die beiden, wie in der Zeitung verbreitet wird, abgestürzt und gestorben sein sollen. Er wird es sein, der die nach einigen Nachforschungen, die die Freunde sogar bis nach Deutschland führen werden, im nächsten Jahr folgende, geheime Expedition zum Mount Everest anführt. Begleitet von Perry und J.-C. sollen nur wenige Sherpas, tibetische Lastenträger beteiligt werden – zu dritt wollen sie sich dem Berg stellen, um hinter die Ursache des Verschwindens der beiden Männer zu kommen und die Erstbesteigung für sich zu reservieren. Zunächst gilt es aber, eine finanzielle Unterstützung der Expedition zu organisieren.
In der Mutter des Adligen Percy Bromley, der zur selben Zeit auf dem Berg verschwunden ist und sich der gescheiterten Expedition zeitweise angeschlossen hatte, finden die drei ihren Gönner. Unter der Bedingung, ihren Verwandten Reggie Bromley-Monfort mit auf den Berg zu nehmen und nach ihrem Sohn zu suchen, stellt die alternde Adlige den Männern finanzielle Mittel zur Verfügung.

Abenteuer mit langem Anlauf

Simmons erzählt die Geschichte packend und verwebt historische Ereignisse gekonnt mit fiktionalen Elementen. Allerdings muss man sich auf den Erzählverlauf auch einlassen, denn zunächst werden zahlreiche wichtige, tatsächlich existente Persönlichkeiten der Bergsteigergeschichte und ihre Expeditionen erwähnt. Ebenso finden spezielle Methoden und Werkzeuge des Bergsteigens ihren Platz. Er lässt Perry in einigen wie Einzelepisoden anmutenden Abschnitten von den vorhergegangenen Untersuchungen bezüglich des Verschwindens und Verhältnisses von Bromley, Mallory und Irwine erzählen – denn keiner weiß, was Bromley eigentlich auf dem Berg zu suchen hatte.
Diese Episoden und die Vorbereitung der eigentlichen Expedition, sowie das Kennenlernen von Reggie Bromley-Montfort nehmen einen großen Teil der Geschichte ein. Bis der Leser die Gruppe tatsächlich nach Tibet und auf den Berg begleitet, vergehen einige hundert Seiten, die sich zwar auch unterhaltsam lesen lassen, die Handlung aber in die Länge ziehen.

Unterhaltsamer Abenteuerroman für kalte Winterabende

Im Himalayagebirge angekommen, lässt einen die Handlung aber schwerlich wieder los. Trotz eventueller Schwierigkeiten, sich in die Bergsteigerthematik einzufühlen, fiebert man doch schnell mit der um die Personen Reggie und den Arzt Pasang und zahlreiche Sherpas anwachsenden Gruppe mit. Gefördert wird dies nicht zuletzt durch die tagebuchartige, emotional aufgeladene Erzählweise des jungen Perry. Auf dem beschwerlichen Weg durch Geröll, Eis und Schnee, über unüberwindbar scheinende Spalten und tückische Gletscher nimmt die Geschichte deutlich an Fahrt und Spannung auf.
Simmons legt mit „Der Berg“ ein spannend erzähltes Abenteuer vor, das ein wenig Anlauf braucht. Hat man diesen aber überstanden, mag man den Roman nicht mehr aus der Hand legen.

Es sei abschließend betont, dass der Klappentext des Romans eine bestimmte Richtung der Handlungsentwicklung ins Mysteriöse andeutet. Ohne zu viel vom weiteren Verlauf der Geschichte verraten zu wollen sei hier versichert, dass „Der Berg“ etwas gänzlich anderes will und fernab aller Schauer- und Fantasyliteratur als klassischer Abenteuerroman mit historischen Einschlägen funktioniert und auch verstanden werden sollte.

Der Berg. Dan Simmons. Friedrich Mader (Übersetzer). Heyne. 2014.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Ich mag vor allem die historisch orientierten Werke von Dan Simmons, wie „Terror“ oder „Drood“. Allerdings ist auch diesen Büchern zu eigen, dass sie sehr viel Anlaufzeit benötigen, bevor die Geschichte an Fahrt aufnehmen kann.
    Genau das ist der Grund, weshalb ich bisher von „Der Berg“ noch Abstand genommen habe. Momentan steht mir nicht der Sinn, nach solch seitenstarken Werken.
    Man muss dazu sagen, dass bspw. „Terror“ oder vor allem „Drood“ zu fesseln vermögen, wenn man die erste Hürde genommen hat.

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