Nicht alle Klassiker wurden von Männern geschrieben, klar! Trotzdem kennt man vor allem ihre Werke, denn sie werden in den Schulen gelesen, verkaufen sich gut – sie gehören zum Kanon. Worteweberin Annika ist neugierig auf die Klassikerinnen und hat wieder drei Romane unter die Lupe genommen.
„Aus guter Familie“
„Aus guter Familie“ stammt die junge Agathe Heidling ohne Zweifel – und trotzdem schwinden ihre Aussichten auf ein gutes, erfülltes Leben mit fortschreitendem Alter. Gabriele Reuter begleitet das Mädchen Agathe mit ihrer bürgerlichen Herkunft in ihrem Roman aus dem Jahr 1895 von der Konfirmation bis ins Leben als alte Jungfer und schließlich in die Heilanstalt.
Die Leser*innen bangen mit der Frau, die erst aussichtsreich ins Leben als Erwachsene startet: erste Verliebtheiten, vertraute Freundinnen, materielle Sicherheit, die Aussicht auf eine Verlobung. Durch die hohen Geldverluste des Vaters wird daraus nichts, und schließlich bleibt Agathe für die Eltern sorgend zurück, während ihre Freundinnen heiraten und Familien gründen. Immer wieder ist Agathe konfrontiert mit den Erwartungen der Gesellschaft und ihren widersprechenden Wünschen, Fantasien und Hoffnungen. In einem Urlaub glaubt Agathe noch einmal die Aussicht auf Glück erhaschen zu können und träumt von einem freien Leben, Selbstständigkeit und Liebe. Doch sie wird erneut enttäuscht.
Gabriele Reuter gibt in ihrem damaligen Bestseller Einblick in die Psyche einer jungen Frau, die an den konservativen Vorstellungen des Kaiserreiches zerbricht. Insbesondere das letzte Drittel des Romans nimmt Fahrt auf und lädt dazu ein, mit der Protagonistin mitzufiebern. Oft wird der Roman mit Fontanes „Effi Briest“ verglichen, wurde aber anders als das von einem Mann geschriebene Pendant nicht kanonisiert, obwohl es damals eine Sensation war.
„Der Steinacker“
Wollen wir wirklich von einem alten weißen Mann in einer Lebenskrise lesen? Wenn Autorin Tove Jansson davon erzählt, ja: Der Finnin gelingt nämlich auf nur einhundert Seiten ein gewitzter Blick auf das Patriarchat und eine Hommage an die Kraft der Worte.
Der frisch pensionierte Jonas blickt bei einem Sommerurlaub auf einer finnischen Schäreninsel auf sein Leben zurück, während der verzweifelt versucht, die richtigen Worte für das Schreiben einer Biografie zu finden. Jonas ist ein Vater, der rein gar nichts über seine beiden Töchter weiß, ein Mann, der seine Ehe in den Sand gesetzt hat und der nur für seine Arbeit lebte. Seit er in Rente gegangen ist, bleiben ihm nur die Worte und auch die scheinen ihn zu verlassen. Hilf- und planlos rudert er über das Meer, trinkt, und gerät mehrmals in Gefahr, bis es ihm langsam gelingt, eine neue Beziehung zu seinen Töchtern aufzubauen.
Tove Jansson ist vor allem für ihre Mumins bekannt, verfasste aber auch zahlreiche Romane für Erwachsene. „Der Steinacker“ erschien 1984 und wurde nun erstmals ins Deutsche übersetzt. Ihr kleiner Roman ist flott erzählt und klug beobachtet. Es lohnt sich definitiv, auch neben den Mumins andere Werke Janssons zu entdecken!
„Man spricht über Jacqueline“
Kann man für die Liebe in eine andere Haut schlüpfen? Die junge Jacqueline in Katrin Hollands Roman von 1930 ist davon überzeugt, dass es sich lohnt. Als „neue Frau“ hat sie ein Jahr lang Europa bereist, zahlreiche Affären gehabt, ihre Meinung öfter geändert als ihre Unterwäsche. Doch als sie plötzlich dem gutaussehenden Michael gegenübersteht, ist sie sofort verliebt. Allerdings würde der konservative Michael niemals ein Vamp ehelichen. Auf gute Manieren und Ehrlichkeit legt er größten Wert. Was nun? Jacqueline bittet kurzerhand ihre bodenständige jüngere Schwester June darum, die Leben zu tauschen. Doch natürlich kann das nicht gut gehen. Spätestens als June und Michael aufeinandertreffen, bröckelt das Leben, das Jacqueline sich aufgebaut hat…
Katrin Hollands Roman ist eine intelligente Perspektive auf Weiblichkeit und gesellschaftliche Konventionen und braucht sich neben anderen Romanen der Neuen Sachlichkeit zum Beispiel von Irmgard Keun nicht zu verstecken. Überzeugend ist, welchen Ausweg die Autorin für ihre Protagonistinnen wählt, denn es gelingt ihr, keine gewöhnliche Geschichte eines Rollentauschs zu erzählen. Die Veröffentlichung bei Rowohlt ist trotzdem die erste Neuauflage seit 1930 und erweist sich als gelungene Wiederentdeckung.
- Aus guter Familie. Gabriele Reuter. Reclam. 2024.
- Der Steinacker. Tove Jansson. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Verlag Urachhaus. 2024.
- Man spricht über Jacqueline. Katrin Holland. rororo. 2024.
Weiterlesen: Hier geht’s zum ersten, hier zum zweiten und hier zum dritten Teil der Klassikerinnen.
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