Nicht alle Klassiker wurden von Männern geschrieben, klar! Trotzdem kennt man vor allem ihre Werke, denn sie werden in den Schulen gelesen und verkaufen sich gut – sie gehören zum Kanon. Worteweberin Annika ist neugierig auf die Klassikerinnen und hat wieder drei Romane unter die Lupe genommen.
„Streichhölzer“
Dass die Literatur von Ásta Sigurðardóttir nicht kanonisiert wurde und erst jetzt ins Deutsche übertragen wurde, überrascht aufgrund ihrer exzentrischen Person, der sozialkritischen, gewaltvollen Themen eigentlich kaum. Mit Erzählungen über häusliche, physische und psychische Gewalt, Schwangerschaftsabbruch und das Prekariat stieß sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts vielen konservativen Isländer*innen vor den Kopf. Genau deshalb: Wegen des entlarvenden Blicks der Autorin, der kraftvollen Erzählstimme und der klugen Konstruktion des Bandes haben uns Leser*innen die Erzählungen im Band „Streichhölzer“ auch heute noch viel zu sagen.
Eine Frau ohne Obdach, eine unverheiratete Schwangere, ein Aktmodell, eine Tagediebin – die (Frauen-)Figuren in den Erzählungen von Ásta Sigurðardóttir stehen am Rande der Gesellschaft. Sie trinken, sind feindlichen Blicken ausgesetzt und nicht selten auch Gewalt – Ehefrauen werden geprügelt, Kinder mit brutalsten Geschichten hörig gemacht. Mehrere Figuren prägt ein kompletter Realitätsverlust: Ihre destruktive Welt, die ihnen im Kleinen viel Schönes offenbart, können sie nicht mit der normierten gutbürgerlichen Gesellschaft in Einklang bringen. Dass genau dort, hinter der sauberen Fassade, viel Boshaftigkeit verborgen ist, sowohl strukturell als auch individuell, weiß Sigurðardóttir gekonnt zu erzählen und stieß auch damit ihrem damaligen Lesepublikum vor den Kopf. Der Band „Streichhölzer“ aus dem Guggolz Verlag macht dreizehn Erzählungen der aufsehenerregenden isländischen Autorin und bildenden Künstlerin (1930-1971) nun erstmals auf Deutsch zugänglich.
„Ein Nachmittag im Mai“
Ihren Ehemann hat sie nie wirklich geliebt. Jetzt ist Anna Mitte dreißig, Witwe, und lebt mit ihren drei Töchtern in einem schicken Häuschen in Wales. In der Stadt stolpert sie dem jungen Schauspieler Charlie in die Arme und bald entspinnt sich zwischen beiden eine leidenschaftliche Romanze. Doch natürlich ist das Glück nicht so einfach zu haben, denn Charlie ist „jung und ungebunden“ und sehnt sich nach dem Rampenlicht, während Anna durch ihre Familie gebunden ist – und dann auch noch schwanger wird …
Siân James erzählt in ihrem Roman nicht nur eine seichte Liebeskomödie, sondern unter anderem von weiblicher Selbstermächtigung, dem Blick der Dorfgemeinschaft auf eine Alleinerziehende, der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und einer selbstbewussten, eigenständigen Heldin, die nicht auf den Mann angewiesen ist, in den sie sich verliebt. Das alles verpackt die Autorin in klare, charmante Prosa mit einer Portion Humor – und so ist „Ein Nachmittag im Mai“ eben auch eine Liebeskomödie, aber eine mit Herz und Hirn. Wie allen Bänden der Reihe „rororo Entdeckungen“ hat Mit-Herausgeberin Nicole Seifert auch dieser Entdeckung – der Roman erscheint zum ersten Mal auf Deutsch – ein erhellendes Nachwort zur Seite gestellt. Insgesamt ein herrliches Buch, nicht nur für den Mai.
„Und ich lass dir als Pfand das Meer“
In „Und ich lass dir als Pfand das Meer“ hat der Mare Verlag sieben Kurz- und Kürzesttexte der mallorquinischen Autorin Carme Riera zusammengestellt. In ihnen ist das Meer Schauplatz leidenschaftlicher Liebesgeschichten, großer Sehnsucht, schwelgerischer Erinnerung und brutaler Mordfälle. Viele der Figuren, im Franko-Regime angesiedelt, sehnen sich nach Freiheit, wollen die gängigen Moralvorstellungen unterlaufen – das vollkommen blaue Meer als Symbol dafür zieht sich durch die Erzähltexte. Sei es die fünfzehnjährige Schülerin, die sich in ihren Lehrer verliebt, und an eine romantische Schiffsüberfahrt zurückdenkt, oder die Seniorin im Rollstuhl, die sich an ihren ersten Blick auf den blauen Ozean erinnert: „Ich wollte ein Stück mitnehmen, ein kleines Stückchen zum Spielen, aber sobald ich eine Handvoll hatte, war es gleich wieder weg, zwischen den Fingern hindurchgeronnen, so fest ich sie auch zusammendrückte.“ (S. 49)
Carme Riera wurde 1948 geboren und lebt heute als Professorin für spanische Philologie in Barcelona. Als Kind begann sie zu schreiben und veröffentlichte die Erzählungen in „Und ich lass dir als Pfand das Meer“ als 27 Jahre junge Frau. In Spanien gelang ihr damit der Durchbruch, während die meisten Texte auf Deutsch nun zum ersten Mal vorliegen. Was für ein Glück, denn das schmale Bändchen webt nicht nur viele Themen en passant in die Meeresszenen ein – und unterwanderte damit auch die Zensur der Franco-Diktatur –, sondern ist auch ein funkelnder Erzählungsschatz, den man sowohl am Meer als auch daheim in einem Rutsch wegschmökern kann.
- Streichhölzer. Ásta Sigurðardóttir. Übersetzung: Tina Flecken. Guggolz Verlag. 2025.
- Ein Nachmittag im Mai. Siân James. Übersetzung: Sabine Längsfeld. Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2025.
- Und ich lass dir als Pfand das Meer. Carme Riera. Übersetzung: Petra Zickmann. Mare Verlag. 2025.
Weiterlesen: Hier geht’s zum ersten, hier zum zweiten, hier zum dritten und hier zum vierten Teil der Klassikerinnen.
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