Buchstaplerin Maike hat sich reisefertig gemacht – und nun heißt die Hobbit Presse sie „Willkommen in Night Vale“. Die Romanauskopplung des amerikanischen Mystery-Podcasts ist schon jetzt ein Highlight im Lesejahr 2016, findet Maike. Denn nirgends sonst findet man eine Stadt, die voller ist mit Absurditäten, Humor und Weisheiten.
Night Vale liegt irgendwo in der Wüste und ist eigentlich ganz normal. Da gibt es einen Radiosender, Regierungsverschwörungen, illegale Engel, raumzeitmanipulierende Plastikflamingos und die blutrünstigsten Monster der ganzen Welt: Bibliothekare. Night Vale ist vielleicht doch nicht so normal – aber das Zuhause von Jackie. Die 19-Jährige betreibt seit Ewigkeiten das örtliche Pfandhaus, doch dann erhält sie von einem Mann, an den sich niemand erinnern kann, einen mit „KING CITY“ beschrifteten Zettel, den sie nicht wieder loslassen kann. Und auch Diane, die Mutter eines fünfzehnjährigen Gestaltwandlers, macht Bekanntschaft mit dem seltsamen Mann. Was geht in King City vor? Was hat Dianes Ex Troy mit der Sache zu tun, immerhin läuft er plötzlich in mehrfacher Ausführung in der Stadt herum? Jackie und Diane merken bald, wenn sie sich bei der Suche nach der Wahrheit nicht in die Quere kommen wollen, müssen sie zusammenarbeiten.
„Jackie kreischte. Der Mann war völlig normal. Sie kreischte.“ (S. 13)
Night Vale ist ein Universum für sich, in dem ganz andere Gesetze gelten. Wer das Buch liest, ohne vorher mit dem Podcast vertraut zu sein, wird sich von der bis ins Lächerliche getriebene Häufung an Absurditäten vielleicht veralbert fühlen. Und zugegeben, es dauert ein bisschen, sich an die Logik der Stadt zu gewöhnen. Doch Dranbleiben und, noch viel wichtiger, akzeptieren lohnt sich in diesem Fall.
„Willkommen in Night Vale“ ist außergewöhnlich, ein Spiel mit Erzählkonventionen und Genres. Fast jede Seite hat Passagen, die das Buch wie eine Variante von „Dunkel wars, der Mond schien helle“ wirken lässt. Nur ein Beispiel ist, dass Jackie 19 Jahre alt ist und gleichzeitig seit vielen Jahrzehnten ihr Pfandhaus betreibt. Sich ausschließende Wahrheiten sollen nebeneinander bestehen bleiben und hinterfragen klassisches Schwarz-Weiß-Denken, das nur Entweder-Oder kennt. Jeder Satz scheint hier zudem die Kraft zu haben, die Erwartungen des Vorangegangenen komplett zu zertrümmern. Auch wenn es manchmal fast ins Dadaistische abdriftet, witzig ist es auf jeden Fall: „Unsere Stadt hat mal wieder ein ernstes Vogelspinnenproblem. Die Schulkonferenz von Night Vale weist darauf hin, dass weniger als eine von fünf Vogelspinnen die High School abschließt.“ (S. 55)
„Willkommen in Night Vale“ besticht durch Diversität im Figureninventar. Da sind nicht nur Nebenfiguren, denen selbst in Nebensätzen und zwischen den Zeilen eigene Geschichten außerhalb von Normen und Erwartungen gegeben wird. Auch die Protagonistinnen Jackie und Diane sind gut ausgearbeitete Frauenfiguren mit glaubwürdigen Hintergründen und Problemen, die die Lesenden nicht kalt lassen. Abwechselnd wird aus ihren Perspektiven erzählt, nur ab und zu sind Radiosendungen zwischengeschaltet. Die Frauen des Romans versuchen nicht – so viel darf verraten werden – die von Männern verursachten Probleme zu lösen, sondern sie zur Verantwortung zu ziehen. Und mit genau diesen Konflikten und Unsicherheiten kann man sich – zumindest metaphorisch – identifizieren. Denn genau hierin liegt die Stärke des Romans: hinter den Absurditäten liegt eine Ebene voller universeller Fragen und Weisheiten, etwa über das Erwachsenwerden oder der Definition von Familie.
„Ihr Bauch tat weh, aber nicht, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen, sondern als hätte sie etwas Schlechtes getan.“ (S. 58)
Die Übersetzung ist leider ein Wermutstropfen. Auch wenn klar ist, dass sich bei einem Buch wie „Night Vale“ Schwierigkeiten beim Übertragen ergeben müssen, hätte man hier mehr Sorgfalt walten lassen. So verschwinden einige wunderschöne sprachliche Wendungen, etwa die Beschreibung des Nachthimmels, die im Englischen Podcast ständig auftaucht („Mostly void, partially stars.“ > „meist leer, teils sternenbedeckt.“), die sich eine Seite weiter mit Jackies Gedanken doppeln soll („mostly void, partially thought“ > „inwendig leer oder in Gedanken“). Und leider ist auch der Gebrauch des geschlechtsneutralen Pronomens „they“, das für die Erikas verwendet wird, nicht konsequent übertragen worden, sodass ein verwirrendes Pronomenmischmasch in Bezug auf die Engel entsteht. Aber wer mit dem Podcast oder dem englischen Buch nicht vertraut ist, wird sich an der Übersetzung deutlich weniger stören als ich – denn der Witz sprüht nach wie vor aus jedem Satz.
Für mich steht fest: „Willkommen in Night Vale“ ist absolut lesenswert. Vorkenntnisse aus dem Podcast sind nicht unbedingt nötig, aber erleichtern den Zugang und erklären so manche Andeutung. Im Hinterkopf sollte man nur Folgendes behalten: „Eine neue Studie legt den Schluss nahe, dass Dinge nicht so sind, wie sie scheinen.“ (S. 349) Zuletzt bleibt mir nur noch, inspiriert von Radio Night Vale, zu sagen: Gute Nacht, Bücherstadt, gute Nacht. Und hüten Sie sich vor Bibliothekaren.
Willkommen in Night Vale. Joseph Fink & Jeffrey Cranor.
Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch: Wieland Freund & Andrea Wandel.
Hobbit Presse. 2016. Zur Website >> www.willkommen-in-night-vale.de
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