Zum 50. Todestag von Mascha Kaléko hat sich Buchstabenakrobatin Melanie in Leben und Werk der „undeutschesten deutschen Dichterin“ – so Daniel Kehlmann – umgesehen. Neuauflagen von Kalékos Büchern, Biografien in Bild und Roman verpackt und sorgsam zusammengestellte Lesebücher gaben ihr berührende Einblicke.
Mascha Kalékos Gedichte habe ich vor wenigen Jahren über einen kleinen Umweg kennengelernt: als Songs, die die Liedermacherin Dota Kehr gemeinsam mit verschiedenen Musiker*innen vertont und eingesungen hat. Sound und Texte der Lieder haben mich sofort berührt und ich habe mich auf die Suche nach der Frau hinter den Texten gemacht. Gefunden habe ich eine Dichterin, die von der Literaturwissenschaft lange Zeit übersehen, vergessen oder nicht anerkannt (?) wurde. Viele der großen Nachschlagewerke enthielten lange keine Informationen über Leben und Werk der Lyrikerin.
Die Jüdin Mascha Kaléko, 1907 als Golda Malka Aufen geboren, war in ihrem Leben mehrmals zur Flucht gezwungen und immer wieder von Ausgrenzungen und Anfeindungen betroffen. Sie musste mehr als einen schweren Schicksalsschlag, darunter den viel zu frühen Tod ihres Sohnes, ertragen. Dennoch gelang es ihr, ein bedeutendes Werk zu hinterlassen, das zum Glück nicht erst heute an ihrem 50. Todestag Anerkennung und Bewunderung erfährt.
Wer sich wie ich dem Leben Kalékos annähern möchte, findet in der gewissenhaft recherchierten und mit viel Einfühlungsvermögen geschriebenen Biografie von Jutta Rosenkranz einen umfassenden Einblick in das bewegte Leben der Literatin. Wem das Lesen klassischer Biografien nicht liegt, kann ich „Die Suche nach Heimat. Mascha Kalékos leuchtende Jahre“ von Indra Maria Janos empfehlen:
„Die Suche nach Heimat. Mascha Kalékos leuchtende Jahre“
In ihrem Roman erzählt Janos aus Maschas Leben in der Zeit vom Frühsommer 1928 bis zum Herbst 1938. Er ist das Ergebnis umfangreicher Recherchen und vermittelt daher trotz Fiktionalisierung ein faktenbasiertes Bild der Dichterin. Im Fokus stehen die „paar leuchtenden Jahre“, wie Mascha diese Zeit selbst einmal beschrieben hat. Rückblicke in Maschas Kindheit und eine als Rahmung verpackte Vorausschau in die Jahre 1956 und 1974 erweitern das Porträt der Dichterin jedoch.
Für Kaléko sind die späten 20er und 30er Jahre die wichtigste und ereignisreichste Zeit ihrer Karriere: Auf erste Veröffentlichungen in Zeitschriften und Zeitungen folgen Auftritte im Berliner Künstler-Kabarett und im Rundfunk, sowie Vertonungen ihrer Gedichte durch Interpretinnen und Schauspielerinnen wie Rosa Valetti, Claire Waldoff oder Annemarie Hase. Nur wenige Jahre nach Veröffentlichung ihres ersten Gedichts erscheinen 1933 und 1934 die Lyrik- und Prosasammlungen „Das Lyrische Stenogrammheft“ und „Kleines Lesebuch für Große“ im Rowohlt Verlag. Nur wenig später wurde Mascha die Arbeit als Schriftstellerin untersagt und ihre Texte von den Nationalsozialisten als „schädliche und unerwünschte Schriften“ verboten.
Diese Jahre im Leben Kalékos sind nicht nur von beruflichen Erfolgen und Misserfolgen geprägt. Auch das Privatleben der damals Anfang 20-jährigen Berlinerin wird durch Veränderungen gestaltet: 1928 heiratet Mascha den neun Jahre älteren Hebräischlehrer Saul Aaron Kaléko, der sie in ihrem Bestreben, sich als Lyrikerin einen Namen zu machen, unterstützt. Die Ehe zerbricht jedoch, nachdem Mascha Dirigent und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver kennen und lieben lernt. Mit ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Evjatar Alexander Michael (geboren 1936) emigriert sie nach zunehmender Bedrohung durch die Nationalsozialisten in die USA.
Janos‘ gelingt es in ihrem Roman, die Eckpunkte aus der Biografie der Künstlerin mit Leben und Emotionen zu füllen. Anhaltspunkte hierfür findet Janos nicht nur im Lebenslauf, sondern auch in den Gedichten der Berlinerin, die einen hohen autobiografischen Anteil haben. Jedes Kapitel schließt mit einem Gedicht von Kaléko, das zuvor erzählte Ereignisse und Gefühle aufgreift und wie ein Nachweis für die Wahrhaftigkeit des Geschriebenen wirkt. Mit der Entwicklung Maschas erleben wir in „Die Suche nach Heimat“ auch die Veränderungen ihrer geliebten Heimat Berlin von einer bunten, kreativen und weltoffenen Stadt, Treffpunkt der Kunst- und Kulturszene und Inspiration für ihr Schreiben, zu einem Ort des Machtmissbrauchs, der Anfeindungen und Ausgrenzungen.
Eine absolute Empfehlung, um der viel zu lange vergessenen Mascha Kaléko näherzukommen!
„Es ist eine aus Sentimentalität und Schnoddrigkeit großstädtisch gemischte, mokante, selbstironisierende Art der Dichtung, launisch und spielerisch, direkt von Heinrich Heine abstammend.“ Hermann Hesse über Mascha Kaléko
„Das lyrische Stenogrammheft“, „Kleines Lesebuch für Große“ & „Verse für Zeitgenossen“
Mascha Kalékos Gedichte, die Titel wie „Krankgeschrieben“, „Sonntagmorgen“, „Großstadtliebe“ oder „Kassen-Patienten“ tragen, erzählen von den großen und kleinen Problemen der Berliner*innen, von Schnupfen, Halsweh und Tarifgehältern, von Gefühlen, vom Sonntagsausflug und natürlich von ihrem geliebten Berlin. Unverkennbar vereint Kaléko Melancholie und Witz, spricht von Dingen, die ein jeder kennt, und trifft damit auf ein begeistertes Publikum.
Zu ihren Bewunderern zählt auch Schriftsteller Franz Hessel, der Mascha vorschlägt, einen Gedichtband im Rowohlt Verlag zu veröffentlichen. Er wird zu Maschas Lektor und einem engen Freund. Mit seiner Hilfe entstehen „Das lyrische Stenogrammheft“ (1933) und „Kleines Lesebuch für Große“ (1934), das auch Prosatexte enthält. Maschas erster Gedichtband wurde ihr berühmtestes und meistgelesenes Buch – es ist der erfolgreichste deutsche Lyrikband des 20. Jahrhunderts und besticht auch heute durch seine Zeitlosigkeit.
Anlässlich ihres Todestages hat der Rowohlt Verlag Maschas Lyrik- und Prosasammlungen erneut herausgegeben. In einem Band vereint er die 1933 und 1934 erschienenen Werke, in einem weiteren wurde „Verse für Zeitgenossen“, das 1948 erstmals veröffentlicht wurde, neu aufgelegt. Hierin sind die Gedichte versammelt, die ab 1938 im amerikanischen Exil entstanden. Sie erzählen von Sehnsucht, Heimatlosigkeit und Emigration – Themen, die leider nicht an Aktualität eingebüßt haben.
Ab und zu – so meine ich – sollte jeder in Mascha Kalékos Texten lesen. Die Neuauflagen aus dem Rowohlt Verlag (wie die Erstausgaben in Taschenbuchform und für einen überschaubaren Preis zu erwerben) sind wie gemacht hierfür und passen in jedes Bücherregal.
„Mascha Kaléko, die undeutscheste deutsche Dichterin, hat die elegantesten, traurigheitersten Gedichte seit Heinrich Heine geschrieben. Was für ein Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie!“ Daniel Kehlmann
„Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. Ausgewählt und mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann“
Wer eine etwas schmuckere Ausgabe, eine Auswahl aus der Fülle von Kalékos Texten oder eine Ergänzung zu ohnehin bereits vorhandenen Ausgaben der oben genannten Bände sucht, findet in dem Leseband „Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa“ der dtv Verlagsgesellschaft das Richtige. In hellgrüne Leinen gebunden, vereint sich eine von Daniel Kehlmann ausgewählte Sammlung aus Mascha Kalékos Werk. Die Auswahl spiegelt die Vielseitigkeit der Lyrikerin wider und gibt über ihre Werke Einblick in ein bewegtes Leben. Das Vorwort von Kehlmann rundet die Sammlung ab und ergänzt sie um interessante Lebens- und Rezeptionsdaten.
„Maschas leuchtende Jahre“
(Jüdisches) Leben, das von Bedrohung, Vertreibung, Flucht und Migration geprägt ist, kennen wir leider nicht nur aus der Geschichte. Umso wichtiger ist es, Kinder für diese Themen zu sensibilisieren. In ihrem biografischen Bilderbuch „Maschas leuchtende Jahre“ schrecken Veronika Wiggert und Marie Geissler nicht davor zurück, das Dunkle im Leben der Lyrikerin aufzugreifen, und liefern damit einen wertvollen Gesprächs- und Reflexionsansatz, der mehr als eine historische Persönlichkeit vorstellt.
Die dynamische, zum Teil recht abstrakte Doppelseitengestaltung, die Verflechtung von Illustrationen und Text sowie die collagenartige Verbindung unterschiedlicher Materialien machen dieses Bilderbuch zu einem Text, der nicht nur Kinder anspricht, sondern auch jugendliche und erwachsene Leser*innen in seinen Bann zieht. In die Erzählung werden darüber hinaus Gedichte aus dem Œuvre Kalékos eingebunden, die vorrangig ein erwachsenes Publikum adressieren – obwohl Mascha auch Gedichte für Kinder verfasst hat. Zusammen mit dem Nachwort, in dem aus Maschas Leben nach der Emigration berichtet wird, ist dieses Buch eine ganz besondere Aufbereitung von Kalékos Leben.
„Der König und die Nachtigall“
Die Kindergedichte aus der Feder Kalékos entstanden vor allem in den USA, dennoch steckt auch in ihnen ganz viel Berlin. Im Berliner Dialekt reimt sie zärtlich und verspielt über Flora und Fauna, Familie und Freunde, verfasst Spiel- und Spaßreime und Gedichte zum Träumen. Versammelt findet man die Kindergedichte in „Träume, die auf Reisen führen“ (2016). Das Gedicht „Der König und die Nachtigall“ wurde außerdem von Hildegard Müller illustriert und 2019 im Tulipan Verlag als Bilderbuch veröffentlicht.
Erzählt wird von einer Nachtigall, die trotz hoheitlicher Versorgung und größter Bewunderung in ihrer Gefangenschaft stirbt. Ein Gedicht, das nachdenklich stimmt, ein Plädoyer für Freiheit und Toleranz. Die mehrfach ausgezeichnete Illustratorin Hildegard Müller setzt Kalékos Parabel gekonnt in Szene. Deutlich grenzt sie Rahmen- und Binnenerzählung voneinander ab. Während die Doppelseiten zu Beginn und Ende wenige Elemente auf weißem Grund zeigen, ist die Erzählung um die gefangene Nachtigall auffallend bunt und detailreich gestaltet – der Singvogel ist häufig erst auf den zweiten Blick zu entdecken. Klein, geduckt und sichtlich verängstigt zeigt Müller die Nachtigall. Ihre schreckgeweiteten Augen transportieren die großen Gefühle, die Kaléko im Text verhandelt, die schrille Doppelseitengestaltung spiegelt den Überfluss, der den Bedürfnissen und Sehnsüchten des armen Tiers gegenübersteht.
Ein fesselndes Bilderbuch, das jedoch keineswegs exemplarisch für die Kindergedichte von Mascha Kaléko steht.
Schließen soll meinen „zeitgemäßen Liebesbrief“ an eine talentierte Frau und Dichterin, deren Leben und Werk hoffentlich noch viele weitere Jahre erinnert und gewürdigt wird, mit einem Zitat von Albert Einstein, der Mascha in einem Brief seine Bewunderung aussprach und damit auch mir aus dem Herzen schreibt:
„Ich habe Ihre Gedichte mit wirklicher Bewunderung gelesen. Sie haben mir solchen Eindruck gemacht wie Weniges aus unserer Zeit.“ Albert Einstein in einem Brief an Mascha Kaléko
- Indra Maria Janos: Die Suche nach Heimat. Mascha Kalékos leuchtende Jahre. dtv. 2022.
- Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft. Neuausgabe. Herausgegeben von Gisela Zoch-Westphal. Rowohlt Taschenbuch. 2025.
- Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Neuausgabe. Herausgegeben von Gisela Zoch-Westphal. Rowohlt Taschenbuch. 2025.
- Mascha Kaléko: Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. Ausgewählt und mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann. dtv. 224.
- Veronika Wiggert und Marie Geissler: Maschas leuchtende Jahre. Tulipan. 2024. Ab 8 Jahren.
- Mascha Kaléko & Hildegard Müller: Der König und die Nachtigall. Tulipan. 2019. Ab 4 Jahren.
Der dtv Verlagsgesellschaft danke ich dafür, dass sie mir für meine Recherche neben den o.g. Titeln eine Ausgabe von Jutta Rosenkranz‘ Biografie „Mascha Kaléko“ (8. Auflage 2023) und das Lesebuch „Die paar leuchtenden Jahre“ herausgegeben von Gisela Zoch-Westphal (20. Auflage 2023) zur Verfügung gestellt haben.
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