Kurz genug für selbst den kürzesten Sommerurlaub: Zwei Novellen von Sharon Dodua Otoo in einem Band. Buchstaplerin Maike kann sich das nicht entgehen lassen. Beide Novellen behandeln auf ihre Art Verlust und Wiederfinden, sowie Schwarzsein in Deutschland.
Die erste Novelle, „die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle …“, breitet die Rollenvielfalt aus, die eine einzige Frau ausfüllt. Die Ich-Erzählerin ist Ehefrau, Mutter, Freundin, Akademikerin, Schwarze Britin in Berlin. Ebenso divers sind die Formen von Verlust, die ihr Leben durchziehen: Ihr weißer Ehemann betrügt sie, ihre Kinder entgleiten ihr, die Freundschaften zu Kareem und Ama zerbrechen. Parallel entspinnt sich die Gedankenwelt der Protagonistin humorvoll bis zynisch: Sie beobachtet und kommentiert im Stillen ihre Welt und merkt, dass sie nicht nur zu fraglichen Gedanken, sondern auch Taten fähig ist.
granatsplitter (179): „ … Ich hätte dich schon vor Jahren verlassen sollen …“
Das Bemerkenswerte an der ersten Novelle ist ihre erzählerische Organisation. Die Geschichte spielt sich gleichzeitig rückwärts und vorwärts ab. Sie beginnt mit Kapitel 10 und einem halben Satz. Es folgt Kapitel 9, welches wiederum mit einem anderen halben Satz beginnt und mit einem halben Satz endet, der den Beginn von Kapitel 10 vervollständigt. Bald stellt sich heraus, dass alle Abschnitte so aufgebaut sind und erst nach und nach komplettiert werden. Die Novelle spiegelt so das Zersplitterte des Inhalts. Tatsächlich bietet sich an, die Novelle zweimal – einmal vorwärts, einmal rückwärts – zu lesen. Je nachdem, in welcher Reihenfolge man liest, füllen sich die Leerstellen anders: etwa das Zerbrechen der Beziehung oder die Chronologie eines schiefgegangenen Abends. Als wäre diese Anordnung nicht genug, versteckt Sharon Dodua Otoo noch eine geheime Botschaft in den Kapiteln: Ein weiterer „Granatsplitter“, den es zu entschlüsseln gilt.
Eine Welt, grau in grau
Konventioneller im Aufbau, dafür umso fantastischer im Inhalt ist die zweite Novelle des Bandes: „Synchronicity“. Die Ich-Erzählerin Cee ist Graphikdesignerin. Eines Tages verliert sie, nach und nach, all ihre Farben. Ein Albtraum, nicht zuletzt, da ein lukrativer Auftrag lockt. Doch von ihrer Mutter weiß sie, dass sie wie alle ihre Vorfahrinnen die Farben zurückbekommen wird, und dass sich damit ihre Welt verändern wird.
„Synchronicity“ ist eine etwas andere Adventsgeschichte, büßt aber nicht das Geheimnisvolle und Unerklärliche ein. Im Gegenteil: Cees „Farbenblindheit“ und die mal humorvolle, mal anrührende Atmosphäre wirken lange nach, auch außerhalb der Adventszeit. Die Novelle schlägt einen anderen Ton an als die erste Geschichte im Band, obwohl sich einige Themen wie Verlust und zerrüttete familiäre Bindungen überschneiden. Doch insgesamt endet „Synchronicity“ hoffnungsvoller.
Die Schriftstellerin und Schwarze Aktivistin Sharon Dodua Otoo, die 2016 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, verarbeitet so zweimal auf unterschiedliche Weise ähnliche Themen. Nicht zuletzt geht es um (Schwarze) Identität, ums Frausein, um Familie.
die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … und Synchronicity: Zwei Novellen. Sharon Dodua Otoo. Aus dem Englischen von Mirjam Nuenning. Illustrationen: Sita Ngoumou. FISCHER. 2017. Beide Texte sind zuvor bei edition assemblage in deutscher und englischer Sprache erschienen.
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