Boyhood

von | 29.06.2014 | Filme, Filmtheater

…ein besonderer Film, so realitätsnah und authentisch, dass man sich so manches Mal darin wiedererkennt. 

12 Jahre eines Lebens

Mit „Boyhood“ setzt Regisseur Richard Linklater einen filmischen Meilenstein, heißt es. Doch warum ist dieser Film so besonders? Zeichensetzerin Alexa hat ihn für euch unter die Lupe genommen.

Das Projekt „Boyhood“ entstand im Jahre 2002 mit der Idee Linklaters, einen sechsjährigen Jungen über 12 Jahre, bis zum Eintritt ins College, zu begleiten und sein Leben aufzuzeigen. Die Besetzung ist über die Jahre hinweg die gleiche, sodass man die Veränderung der Schauspieler im Laufe des Films beobachten kann. Der kleine Mason (Ellar Coltrane) reift zu einem jungen Mann heran, Schwester Samantha (Lorelei Linklater) zu einer jungen Frau, und auch Mutter Olivia (Patricia Arquette) wird älter und bekommt Fältchen im Gesicht.
Man sieht den Wandel, die Spuren, die die Jahre hinterlassen, sowohl körperlich als auch geistig. Gedanken werden geäußert, die einen in den verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigen. Als Kind fragt sich Mason: Gibt es Magie überhaupt? Gibt es Elfen? Er beharrt so sehr auf der Vermutung, es gäbe keine Magie, dass sein Vater (Ethan Hawke) schließlich nachgibt und zugibt: Nein, es gibt keine Magie. Mit dieser Szene endet auch die magische Phase dieses Jungen, er beginnt fortan logisch zu denken.

Als Jugendlicher versucht er cool zu sein und sich dennoch von anderen zu unterscheiden. Dabei merkt er gar nicht, dass er stets von seinen Mitmenschen beeinflusst wird, dass so etwas wie Gruppenzwang auch ihn treffen kann. Nun interessiert er sich für Mädchen, erlebt die erste große Liebe und die damit verbundene erste große Enttäuschung. Auch seine große Leidenschaft, das Fotografieren, entdeckt er in dieser Phase seines Lebens.
Als junger Erwachsener lässt Mason sich nicht mehr täuschen. Er beginnt alles um sich herum zu hinterfragen. Was soll das eigentlich mit Facebook? Warum geben die Menschen so viel von sich preis, wenn sie doch von der Massenüberwachung wissen? Die Welt um ihn herum erscheint ihm düster, seine Verschwörungstheorien machen ihn zu einem betrübten Menschen. Nach der Trennung von seiner Freundin gibt diese zu, sie fühle sich nun erleichtert, nicht mehr in der Nähe eines so trübseligen Menschen sein zu müssen.

Gedanken, Gefühle und die damit einhergehenden Handlungen beherrschen den Film, aber auf eine ganz eigene Weise: man muss als Zuschauer interpretieren, mitdenken, schlussfolgern. Denn nicht immer werden Gefühle tatsächlich geäußert, man erkennt sie höchstens an der Mimik und Gestik der Protagonisten. Es gibt Szenen, in denen Mason als Beobachter gefilmt wird. Man sieht, was er sieht, und im nächsten Augenblick wird sein Gesichtsausdruck gezeigt. Als Zuschauer merkt man auf diese Weise, wie es in seinem Kopf gerade arbeitet und doch kann man nur interpretieren, sich ausmalen, dass ihm die Situation, die er erlebt, nicht gefällt. Kommentiert wird in solchen Szenen seitens der Protagonisten nichts, wie wohl im richtigen Leben, wenn man schlicht und einfach nicht weiß, was man dazu sagen soll. Einen Hintergrunderzähler gibt es nicht.

Die Vermutungen, die man sich dabei aufstellt, werden oftmals durch die nächsten Szenen bestätigt: nicht umsonst beobachtet Mason den Professor seiner Mutter mit Skepsis – bald schon werden sie zu einem Paar, heiraten, ziehen zusammen. Es entsteht eine Patchwork-Familie, bestehend aus vier Kindern und einem Ehepaar, und eine Zeit lang scheint alles wie Friede-Freude-Eierkuchen, bis der Stiefvater beginnt zu trinken und die Mutter zu schlagen. Diese ergreift gleich die nächste Gelegenheit zur Flucht und zieht mit ihren Kindern nun zum zweiten Male weg. Es ist wohl einer der schwierigsten Lebensabschnitte Masons, denn mit dem Umzug verliert er nicht nur all seine Sachen, die er zurücklassen musste, sondern auch gleich zwei Stiefgeschwister, die ihm über die Jahre ans Herz gewachsen sind.

Die Männergeschichten der Mutter haben damit aber noch kein Ende. Auch der nächste Mann ist ein Reinfall, sodass eine Trennung voraussehbar ist. Die Kinder müssen sich dabei immer wieder neu umstellen, sich an neue Lebenssituationen gewöhnen und anpassen. Und dann ist da noch ihr leiblicher Vater, den sie in regelmäßigen Abständen sehen, mit dem sie richtig reden und spannende Dinge machen können, wie Campen und Sport treiben.
Die alleinerziehende Mutter ist oftmals überfordert. Sie versucht, Kinder, Studium und Job unter einen Hut zu bekommen, was sicherlich ein Grund ist, weshalb sie Unterstützung von Männern sucht. Auch wenn ihre Pläne, eine „richtige“ Familie aufzubauen, scheitern, hat sie den leiblichen Vater ihrer Kinder zur Seite und kann sich auf diese Weise durchs Leben kämpfen. Richtigen Trennungsschmerz erfährt sie jedoch, als beide Kinder ausziehen und sie alleine zurückbleibt. In dieser Szene fällt sie in eine Krise, glaubt, der nächste Meilenstein sei wohl der Tod, was ihr den Kommentar von Mason einbringt, sie hätte wohl mal eben 40 Jahre übersprungen.

Der Film ist, trotz der dargestellten schwierigen Situationen, ein ruhiger Film. Kein Hollywood-Märchen voller Action und Tragödie, ergreifender Hintergrundmusik und unrealistischer Wendungen. Er zeigt das Leben eines Jungen so realitätsnah, dass man glaubt, es hätte zum Teil auch das eigene Leben sein können. Ausschlaggebend hierfür sind vor allem die Dinge, die man in den letzten 12 Jahren auf irgendeine Weise selbst erlebt hat: Animes wie Dragon Ball, Harry Potter (und die Öffnung der Buchhandlungen um Mitternacht bei Erscheinung des neusten Buches!), Game Boy und andere Spielekonsolen, der Hype um Twilight, Britney Spears‘ „Oops! I dit it again“ (und die Tanzbewegungen, die Schwester Samantha dazu macht), die Mode (Schlaghosen, Röhrenjeans, Tops, Plateauschuhe etc.), der Wirbel um die NSA, Facebook und andere Social Media. Der Film zeigt nicht nur die Entwicklung eines Jungen und seiner Familie, sondern auch die Entwicklung der Gesellschaft. Während die Eltern meinen, Jungs müssten sich doch eher für Sport interessieren als Mädchen, zeigen Mason und seine Schwester, dass es in ihrer Generation auch genau andersherum sein kann.

Was also ist „Boyhood“? Ganz sicher ein besonderer Film, so realitätsnah und authentisch, dass man sich so manches Mal darin wiedererkennt. Ein Film, der zeigt, wie das Leben wirklich ist und man nicht „mal eben einen Cut“ machen kann, weil es ununterbrochen weiterläuft. Ein Film, bei dem man den Lauf der Dinge nicht voraussehen kann, bei dem die Protagonisten „improvisieren“ müssen, mit der Zeit mitgehen, Veränderungen akzeptieren und das Beste daraus machen. „Es ist wie es ist“ wäre dabei wohl das passende Motto, genau wie im richtigen Leben.

Film-Soundtrack (erscheint Anfang Juli):

1. Summer Noon – Jeff Tweedy
2. Yellow – Coldplay
3. Hate To Say I Told You So – The Hives
4. Could We – Cat Power
5. Do You Realize?? – The Flaming Lips
6. Crazy – Gnarls Barkley
7. One (Blake’ s Got A New Face) – Vampire Weekend
8. Hate It Here – Wilco
9. Good Girls Go Bad (Feat. Leighton Meester) – Cobra Starship
10. Beyond The Horizon – Bob Dylan
11. Band On The Run – Paul Mccartney & Wings
12. She’ s Long Gone – The Black Keys
13. Somebody That I Used To Know (Feat. Kimbra) – Gotye
14. I’ ll Be Around – Yo La Tengo
15. Hero – Family Of The Year
16. Deep Blue – Arcade Fire

Darsteller: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Lorelei Linklater, Ethan Hawke
Regisseur: Richard Linklater
FSK: Freigegeben ohne Altersbeschränkung
Studio: Universal Pictures Germany GmbH
Erscheinungstermin (DVD): 30. Dezember 2014
Produktionsjahr: 2014
Spieldauer: 164 Minuten

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