Einen Sherlock Holmes Roman über Sherlock Holmes schreiben? Das kann ja jeder! Anthony Horowitz beweist im Nachfolger von „Das Geheimnis des weißen Bandes“, dass man auch den Napoleon des Verbrechens in den Fokus stellen kann. Hier stehen die Ermittler vor einem großen Fall – dem Fall Moriarty!
Sherlock Holmes und Professor Moriarty sind tot! Beide sind im Frühjahr 1891 im Zweikampf in den Reichenbachfällen umgekommen und hinterlassen gleichermaßen glühende Bewunderer und Widersacher. Doch ist Moriarty wirklich umgekommen? Über diesen Zweifel lernen sich der amerikanische Privatermittler Frederick Chase und Inspektor Athelney Jones vom Scotland Yard kennen – und beginnen gemeinsam zu ermitteln. Denn Moriarty schien sich mit seinem amerikanischen Gegenstück, dem Gangsterboss Clarence Devereux, verabredet zu haben. Stand den verbrecherischen Imperien eine Fusion bevor? Und wird Devereux jetzt Moriartys Platz einnehmen? Alles deutet darauf hin, als London von einer Welle ungeahnter kaltblütiger Gewalt überrollt wird. Ganz in der Tradition von Holmes und Watson machen sich Jones und Chase auf die Jagd nach dem gesichtslosen Amerikaner und geraten dabei in die Schusslinie…
Ein Holmes ohne Holmes? Kann das funktionieren?
Denn von der ersten Seite an ist klar, dass das Ermittlerduo Jones und Chase, bei all ihrer Bewunderung für den Meisterdetektiv und seinen Biographen, den Methoden, wie sie in Watsons (sprich: Conan Doyles) Aufzeichnungen vorliegen, nur mühsam nacheifern können. Aber genau darin liegt der Witz: wer sich als Leser_in schon in Conan Doyles Werk auskennt, wird hier überall auf liebevolle Anspielungen, subtil eingebaute Details und den ein oder anderen alten Bekannten stoßen. Und wer noch keine originale Geschichte gelesen hat, wird dazu angeregt.
Und natürlich dürfen Holmes‘ eigensinnige Methoden und Charakterzüge nicht zu kurz kommen – fast schon unfreiwillig komisch inszeniert durch Jones, den vielleicht ersten Hardcore-Fan, den Holmes je hatte. Horowitz reflektiert und kommentiert Conan Doyles Werke in „Der Fall Moriarty“ stärker als in „Das Geheimnis des weißen Bandes“, und er füllt das London kurz nach Holmes vermeintlichem Tod mit Chaos, Gewalt und Unsicherheit. Gerade die explizit geschilderte Gewalt stört die Leseerfahrung etwas, erscheint sie allzu modern für einen „echten“ Holmes.
Dafür jedoch sind die Charaktere exzellent ausgearbeitet und die Identifikation mit dem Ich-Erzähler Chase und mit Jones fällt sehr leicht – man ist ihnen näher als man dem undurchsichtigen Holmes je sein könnte. Man kann mit Jones und Chase versuchen, die Rätsel zu lösen und die Fäden des groß angelegten Versteckspiels zu entwirren, und immer öfter fragt man sich, was wahr ist, und was falsch.
Und auch wenn der Fall sich zeitweilig etwas in die Länge zieht und die Lösungen einiger Rätsel viel zu einfach erscheinen, die Deduktionen zu klar: man darf das Buch keinesfalls aus den Händen legen! Denn Horowitz wartet mit einer letzten, unbeschreiblichen Überraschung auf, die den „Fall Moriarty“ zu einer der intensivsten Leseerfahrungen macht.
Kurzum, Horowitz‘ neuer Roman ist ein packendes Verwirrspiel, und kommt auch ohne Holmes und Watson aus. Für alle, die nicht genug von Sherlock Holmes bekommen können, bietet sich „Der Fall Moriarty“ als großes, dunkles Wimmelbild an.
Infokasten: Die Kurzgeschichte „Die drei Königinnen“, die im englischen Original zusammen mit Moriarty in einem Band erschienen ist, wird von Insel als kostenloses ebook bereitgestellt – für alle, die mehr von Athelney Jones wollen.
Der Fall Moriarty, Anthony Horowitz, Lutz W. Wolff (Übersetzer), Insel Verlag, 2014
irgendwie ist es mir unmöglich, die englische Version dieses Buches zu finden! Tipps? Wo kann ich das bestellen?
Hallo Sonja,
auf Englich heißt das Buch einfach nur „Moriarty“, und ist z.B. bei Thalia online aufgelistet (und gerade im Angebot, ich schlage vielleicht selbst zu!). Oder frag die Buchhandlung deines Vertrauens, ob sie es dir bestellen kann 😉
(Maike)
Danke 🙂 der erste band war nämlich schon phänomenal