Vielleicht das wichtigste Buch des Jahres, findet Buchstaplerin Maike: „The Hate U Give“ von Angie Thomas setzt sich mit rassistischer Polizeigewalt in den USA auseinander und ist dennoch viel mehr als ein erhobener Zeigefinger.
Die sechzehnjährige Starr erlebt den Horror, den schon zu viele Menschen der schwarzen Community in den USA mit angesehen haben: Ihr Kindheitsfreund Khalil wird von einem weißen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen – obwohl er unbewaffnet war. Sie selbst ist die einzige Zeugin. Soll sie aussagen? Wird das zutiefst rassistische Justizsystem einem schwarzen Mädchen glauben, das in einem von Gangs beherrschten Viertel lebt? Und soll sie sich an ihrer fast ausschließlich weißen High School für Khalil einsetzen, auch wenn – und gerade weil – die Medien ihn als Gangster oder „Thug“ abstempeln, der es nicht besser verdient habe?
The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody
Zunächst könnte man meinen, an Starr würde ein beliebiges Jugendbuchthema durchgespielt: Die Protagonistin zwischen zwei Welten, deren innere und äußere Konflikte sie immer tiefer in Gefahr bringen, während sie herauszufinden versucht, wer sie ist. Zum Teil stimmt das auch, aber „The Hate U Give“ kann mehr als das. Die Ich-Erzählerin Starr ermöglicht einen tiefen Einblick in das Leben und die Kultur der schwarzen Gemeinschaft in Amerika. Titelgebend ist eine Zeile von Rapper Tupac, die als roter Faden für das Verständnis dient: „The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody“ – also etwa: Wer den schwarzen Kindern von Anfang an nichts als Hass entgegenbringt, bekommt irgendwann die Quittung dafür.
Aber das Buch ist mehr als eine Ansammlung von Rap-Zitaten. Stellenweise ist es ein Überblick über die schwarzen Bürgerrechtsbewegungen und gibt viele Beispiele von Alltagsrassismus. In der Art, wie Starr ihren weißen „Boyfriend“ belehrt und Fehlverhalten der weißen Mehrheit anprangert, kann schnell der Eindruck aufkommen, dass sie selbst voreingenommen ist. Doch das führt an der Botschaft des Romans vorbei: Das Sichtbarmachen von Ungerechtigkeiten. „The Hate U Give“ geht auf Vorurteile ein und macht deutlich, dass es solchen „umgekehrten“ Rassismus gegen Weiße nicht gibt – denn Diskriminierung ist ein komplexes System und keine persönliche Abneigung.
Schwarz, Weiß, Grauzone
Die Grenze von Opfern und Tätern ist nicht immer klar umrissen und bildet so einen Teil der komplexen und manchmal widersprüchlichen Thematik ab. Nicht alle Polizisten sind Mörder, nicht alle Schwarzen sind unschuldig – Angie Thomas zwingt die Leser*innen eher dazu, den Vorfall in einem größeren Kontext zu betrachten. Dieser ist ein ganz realer und heißt „Black Lives Matter“ (Abk.: BLM. Dt.: „schwarze Leben zählen/sind von Bedeutung“). Das bezeichnet eine Bewegung, die nach unzähligen Vorfällen entstand, als weiße Polizisten unbewaffnete schwarze Jugendliche erschossen und doch straffrei blieben.
Für deutsche Leser*innen mag das der erste intimere Berührungspunkt mit dem Thema Rassismus in Amerika und der BLM-Bewegung sein. Durch Starrs Augen werden der Vorfall und die Folgen erst lebendig. Die realistische Verwendung zahlreicher Anglizismen und Jugendsprache macht sie glaubwürdig. Hinzu kommt, dass Angie Thomas die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin meisterhaft darstellt und nach außen kehrt. Sie bewegt sich an der Grenze von Selbstschutz und Selbstverleugnung.
Letztendlich geht es in „The Hate U Give“ nicht um Mut, sondern um Gerechtigkeit und vor allem gerechtfertigte Wut: Auf ein System, gegen das mit Höflichkeit nicht mehr anzukommen ist. Der Roman steht exemplarisch für viele reale Ereignisse und lässt sich gleichzeitig als Augenöffner, Wegweiser durch Grauzonen und schlicht als Jugendbuch mit einer komplexen Protagonistin lesen.
The Hate U Give. Angie Thomas. Übersetzung: Henriette Zeltner. cbt. 2017.
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