Über das Land und noch weiter

von | 06.11.2017 | Belletristik, Buchpranger

Peter Stamms „Weit über das Land“ ist ein Buch über das Davongehen, über tiefe Bindungen und das Leben. Zu Recht stand es vergangenes Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. – Von Zeichensetzerin Alexa

„Weit über das Land“ beginnt mit alltäglichen Dingen. Es geht um eine Familie, die gerade erst vom Urlaub zurückgekehrt ist. Der Abend ist ruhig. Mann und Frau sitzen auf der Holzbank vor ihrem Haus und trinken Wein, während die Kinder in ihren Betten liegen. Thomas lässt die Gedanken schweifen, stellt sich vor, wie der nächste Tag aussehen und wie der Alltag wieder beginnen würde. Wie alles seinen gewohnten Ablauf wieder annehmen würde. Er konnte alle Schritte seiner Frau voraussagen, die seiner Kinder, die der Nachbarn.

Gehen

„Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab.“ (S. 13) Thomas geht. So plötzlich, dass es selbst beim Lesen unwirklich erscheint, so als würde er das nur in seinen Gedanken tun. Eine „was wäre, wenn“-Vorstellung. Aber dem ist nicht so. Thomas geht und verlässt seine Frau und seine Kinder. Lässt alles hinter sich zurück, um das eigene Leben zu leben, fernab des Alltags, der Verantwortung und gesellschaftlichen Zwängen. Er geht durch die Natur und findet zum „Leben“ zurück: „Es war ihm, als lauere etwas in der Dunkelheit, kein Mensch, kein Tier, eine Art allgemeiner Lebendigkeit, die den ganzen Wald umfasste.“ (S. 15/16)

Verlassen

Thomas zieht immer weiter, lernt andere Menschen kennen, arbeitet hier und da, schlägt sich durch, sieht viel von der Welt. Astrid, seine Frau, lebt das Leben mit ihren Kindern weiter, geht ihrer Verantwortung nach und kümmert sich um alles. Anfangs versucht sie noch den Schein zu wahren, indem sie Thomas auf der Arbeit krankmeldet und den Kindern erzählt, ihr Vater sei schon früher zur Arbeit gefahren. „Aber plötzlich war sie sicher, dass Thomas auch zum Abendessen nicht kommen würde und auch morgen nicht. Das Gefühl nahm ihr den Atem, sie machte sich keine Sorgen, sie empfand eine lähmende Angst, als wüsste sie schon, was geschehen würde.“ (S. 27/28) Bald muss sie sich dem Gefühl, verlassen worden zu sein, stellen – mit allem, was dazugehört.

Zwei Welten

Peter Stamm ist es gelungen, zwei Lebenswelten aus verschiedenen Perspektiven aufzuzeigen, die vollkommen gegensätzlich sind. Während Thomas den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung verkörpert, stellt Astrid die verantwortungsbewusste Frau und Mutter dar. Diese Rollenverteilung wirkt auf den ersten Blick klischeehaft, wirft jedoch auch die Frage in den Raum, ob es Müttern grundsätzlich schwerer fällt, ihre Familie zu verlassen. Mit Sicherheit wird Astrid, genau wie Thomas, ihre Träume haben, welche sie wegen ihrer Kinder nicht ausleben kann. Aber es ist nicht sie, die geht, um sie zu verwirklichen, sondern ihr Mann. Als Frau ist sie nicht nur der Verantwortung gegenüber ihrer Familie verpflichtet, sondern auch gesellschaftlichen Zwängen und Normen. Würde sie ihre Kinder verlassen, wäre sie der Kritik aller Außenstehenden ausgesetzt. Wenn ein Mann geht, wird das weniger kontrovers aufgefasst.

Und das ist auch der Grund, weshalb sich im Laufe des Romans das Gefühl von Unfairness einschleicht. Die Leser sehen durch sprachliche Bilder, was Thomas erlebt. Es ist eine schöne, naturnahe Welt, die zwar ihre Gefahren hat, aber dennoch den Eindruck vermittelt, es sei eine schönere als jene, in der Astrid lebt. Astrid ist die, die verloren hat. Verlassen, der kompletten Verantwortung überlassen, an einem Ort gefangen. Sie kann aus ihrer Welt nicht ausbrechen, weil es niemanden gibt, der sie ersetzen könnte.

Lebensnah

„Das Frühstück ohne Thomas war fast schon Routine, aber nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ging Astrid ruhelos durch die Räume, nahm Dinge in die Hand und legte sie wieder hin.“ (S. 47)

Thomas‘ Handlung ist unvorstellbar und vorstellbar zugleich. Der Schreibstil vermittelt eine derartige Leichtigkeit und Klarheit, dass sie den Kontrast zur Gefühlslage der Protagonisten bildet. Die Zeilen verfliegen, die Sprache trägt mit klaren Worten und Sätzen durch die Geschichte. Sprachlich erscheint alles einfach. Inhaltlich springt man in tiefe Gewässer, voller Gedanken und Gefühlsbeschreibungen. Sowohl Thomas als auch Astrid müssen mit ihren Erinnerungen und ihrer Situation klarkommen. Gerade dieser Stil trägt dazu bei, dass die Geschichte lebensnah erscheint. Man kann sich in die Lage beider Protagonisten hineinversetzen und sich vorstellen, dass sich diese Geschichte auch in der Realität hätte abspielen können.

Wenngleich die Rollenverteilung in „Weit über das Land“ kritisch zu betrachten ist, ist der Roman vor allem im Hinblick auf die emotionale und gedankliche Tiefe sowie die stilistische Umsetzung sehr lesenswert.

Weit über das Land. Peter Stamm. S. Fischer. 2016.

 

Bücherstadt Magazin

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