„Zur Vielfalt gehört auch, selbst vielfältig zu werden und die Vielfalt in sich zu entdecken. Vielfalt leben meint somit, dass man sich selbst und andere dabei unterstützt, die eigene Vielfalt zu entwickeln.“
Männer, Frauen, Menschen, inter-, trans-… Was ist eigentlich Identität und was hat das Geschlecht damit zu tun? Worteweberin Annika hat mit Jörg Bernardy, dem Autor von „Mann Frau Mensch“, darüber gesprochen, wie Geschlechterklischees entstehen, wie man in möglichst wenig Fettnäpfchen tritt und ob er als Frau das gleiche Buch geschrieben hätte.
BK: Herr Bernardy, vielleicht erst einmal vorweg: Haben Sie sich heute eigentlich schon als Mann gefühlt?
JB: Ich habe mich heute schon lebendig gefühlt, jetzt gerade in diesem Moment bin ich nachdenklich, aber als Mann habe ich mich heute noch nicht gefühlt. Ich bin mir zwar bewusst, dass ich als Mann wahrgenommen werde und könnte jetzt auch aufzählen, was wir in unserer Gesellschaft alles als typisch männlich definieren. Aber ich könnte jetzt nicht sagen, dass Männlichkeit für mich ein Gefühl ist.
BK: Man könnte ja meinen, das Geschlecht wäre durch biologische Faktoren bestimmt. Was bedeutet das denn dann eigentlich, sich als Mann oder Frau zu fühlen?
JB: Seit diesem Buch werde ich viel häufiger damit konfrontiert, dass ich ein Mann bin und von anderen auch so wahrgenommen werde. Aber das sagt ja im Grunde überhaupt nichts darüber aus, wie männlich ich mich fühle. Übrigens war genau das auch die Ausgangsfrage für das Buch. Es gab einen entscheidenden Augenblick in einem meiner Seminare am Design Department der HAW Hamburg. Zusammen mit ungefähr 45 Studierenden stellte ich mir die Frage, was eigentlich die individuelle Geschlechtsidentität ausmacht. Dabei wollten wir auch ganz konkret herausfinden, wie sich das eigene Ich anfühlt und was man daran genau als weiblich oder männlich empfindet.
Unsere geteilten Erfahrungen und Erlebnisse waren erstaunlich: Den meisten war es fast gar nicht möglich, ihr Ich-Gefühl genauer zu beschreiben und schon gar nicht, was daran nun eigentlich weiblich oder männlich sein sollte. Zwar definierten sich die meisten als entweder Mann oder Frau, aber gleichzeitig gaben die meisten an, dass sie sich überwiegend neutral erleben. Diese Erfahrung war deshalb so augenöffnend und bereichernd für uns alle, weil es uns plötzlich so normal vorkam. Ich glaube, dass es eine sehr verbindende Erfahrung war und der Auftakt zu einem sehr produktiven Theorie-Seminar mit intensiven Auseinandersetzungen und Diskussionen.
BK: Können Sie kurz erklären, wie das sogenannte soziale Geschlecht entsteht?
JB: Das soziale Geschlecht ist ein Teil unserer Identität und entwickelt sich durch äußere Einflüsse. Letztlich ist es eine sehr alltägliche Sache, denn wie man aussieht, wie man geht, lacht und welche Hobbies man hat, wird als weibliches oder männliches Verhalten bewertet. Erst mit zwei Jahren verstehen sich Kinder als Mädchen oder Jungen. Das soziale Geschlecht und die sozialen Rollen, die wir im Leben einnehmen, werden also zu einem großen Teil erlernt. Allgemein unterscheidet man drei Ebenen, die das Geschlecht von jedem Menschen wesentlich ausmachen: die biologische, die soziale und die gefühlte, also subjektiv erlebte Ebene. Alle drei haben einen Einfluss darauf, wie man sich fühlt, sich selbst und auch andere wahrnimmt. Das soziale Geschlecht ist nichts, womit wir einfach so geboren werden.
BK: Was für Möglichkeiten gibt es, Geschlechterklischees wie „Jungen weinen nicht“ oder „Mädchen mögen Schminke“ zu vermeiden?
JB: Die Möglichkeiten sind wahrscheinlich genauso vielfältig wie die Gesellschaft selbst. Am wichtigsten scheint mir, dass man bereits als Kind lernt, was ein Geschlechterklischee ist, was es bedeutet und wie es funktioniert. Denn noch immer werden Kindern je nach Geschlecht unterschiedliche Interessen und Verhaltensweisen zugeschrieben. Mädchen werden beispielsweise häufig mit Worten wie „schick“ oder „süß“ gelobt, Jungen bekommen hingegen Komplimente für ihre Abenteuerlust und ihren Mut.
Um diese ungleiche Bewertung zu vermeiden, kann man Klischees und Stereotypen zum Beispiel neutralisieren. Die llustratorin Karin Lubenau verfolgt beispielsweise mit ihrer Serie „Mit ohne Rosa“ das Ziel, die Farbe Rosa zu neutralisieren. Wie das gehen soll? Rosa soll eine neutrale Farbe werden, die auch mal schmutzig werden darf und eine Fee darf dann auch mal voll Karacho durch die Pfütze springen. Neutralisieren bedeutet nicht, gar nicht mehr zu bewerten oder alle gleich zu bewerten. Es geht dabei um eine Neubewertung und um das Bewusstsein, dass Eigenschaften ambivalent sind und je nach Geschlecht und Person unterschiedlich bewertet und interpretiert werden. Das Ideal beim Neutralisieren von Bewertungen wäre, dass Kinder so frei wie möglich von festgelegten und vorgegebenen Rollenbildern aufwachsen können.
BK: Im Schwedischen gibt es das geschlechtsneutrale Personalpronomen hen, eine Mischung aus hon (sie) und han (er), das in den 60er Jahren erstmals auftauchte. Sind solche sprachlichen Konstruktionen Ihrer Meinung nach hilfreich für die Wahrnehmung von Geschlecht in der Gesellschaft?
JB: Ja, aber nicht jeder Eingriff in Sprache ist sinnvoll. Das schwedische Personalpronomen hen ist hilfreich und notwendig, weil es deutlich macht, dass unsere Einteilung in zwei Geschlechter nicht so selbstverständlich ist wie gedacht. Mann und Frau sind Kategorien, aber sie bilden nur sehr grob und vereinfacht unsere biologische, soziale und subjektiv erlebte Wirklichkeit ab. Deswegen benötigen wir als Gesellschaft auch neue Kategorien und sprachliche Konstruktionen, die unser Verständnis von „Geschlecht“ erweitern.
Wenn sprachliche Konstruktionen das schaffen, wird unser Blick differenzierter und es wird uns irgendwann möglich sein, geschlechtsübergreifend zu fühlen, denken und handeln. Sprachliche Konstruktionen können den Blick nämlich auch verengen und zu sehr auf einen Teilaspekt fokussieren. Die Wahrnehmung von Geschlecht sollte nicht dazu führen, dass wir das große Ganze aus dem Blick verlieren. Wir brauchen in diesem Sinne mehr sprachliche Konstruktionen, die eine geschlechtsübergreifende Perspektive in den Alltag bringen und das geht nur über öffentliche, rechtliche und mediale Kommunikation.
BK: Machen sprachliche Konstruktionen es nicht gleichzeitig auch immer schwieriger zu kommunizieren?
JB: Sprache ist verführerisch. Einerseits lässt sie die Unterschiede zwischen uns Menschen oft größer erscheinen als sie sind. Andererseits ist Sprache ein ideales Mittel, um Sachverhalte, Situationen und Menschen zu vereinfachen und zu kategorisieren. Zum Beispiel Stereotype: sie vereinfachen die Kommunikation, ohne Kategorien und Stereotype wären wir praktisch gar nicht lebensfähig. Aber oftmals verlieren wir uns in Details und Nebenbedeutungen, wenn wir über bestimmte „Konnotationen“ eines Begriffs diskutieren. Es ist wichtig, dass wir darüber diskutieren, ob beispielsweise transsexuell, transgender, transidenitär oder transgeschlechtlich das richtige Wort für eine Sache ist. Am Ende geht es aber doch um das Phänomen und wie wir damit angemessen umgehen.
Genauso wichtig ist es, die Bedeutung von demisexuell, asexuell, intersexuell usw. zu kennen. In unseren gesellschaftlichen Debatten geht es aber oftmals mehr um die Benennung und die damit verbundenen moralisch aufgeladenen Nebenbedeutungen und nicht so sehr um die Sache. Besonders im politischen Streit und in den sozialen Medien spielt das Missverständnis durch Sprache eine große Rolle.
Unterschiedliche Auslegungen und Interpretationsmöglichkeiten werden sogar gezielt genutzt, um sich gegenseitig ins argumentative Aus zu stechen und andere als „falsch“ dastehen zu lassen. Ja, sprachliche Konstrukte fördern Missverständnisse, persönliche Fehlinterpretationen und lösen subjektive Kränkungen aus, um jetzt nur mal die negativen Seiten zu nennen. Denn es gibt auch viele positive Aspekte und es liegt letztlich nicht allein an der Sprache, sondern an der Haltung und am Bewusstsein derjenigen, die sprechen, zuhören, sich streiten oder (falsch) verstehen.
BK: Sie gehen in einem Kapitel auf die Macht ein, die Sprache auf unsere Gesellschaft ausübt. Ich habe mich gefragt, wie schwer es für Sie war, im Buch alles – teilweise ja auch wissenschaftliche Theorien – verständlich zu erklären und gleichzeitig in kein „sprachliches Fettnäpfchen“ zu treten.
JB: Ich habe mich an manchen Stellen gefühlt wie „Der Idiot“ von Dostojewski – egal wie man es macht, man macht es falsch. Die Wahrscheinlichkeit, dass man scheitert und sich auch mal irrt, ist enorm. Vieles von dem, was ich versucht habe, unvoreingenommen in verständliche Worte zu fassen, hat sich als ein gesellschaftliches Minenfeld entpuppt, das einem in jedem Moment wortwörtlich um die Ohren fliegen kann.
Das hat mir beispielsweise gezeigt, wie weit die kulturelle Identifikation mit dem Geschlecht über das hinausgeht, was wir sprachlich erfassen können. Die eigene Geschlechtlichkeit ist tief in uns verankert und immer noch an archaische Erfahrungen gebunden. In meinem persönlichen Schreibprozess ging diese Erfahrung so weit, dass ich einmal das Gefühl hatte, meine eigene „Männlichkeit“ zu verraten – und damit auch die Zugehörigkeit zum „männlichen Geschlecht“ insgesamt. Das ist jetzt aber nur ein autobiografischer Aspekt von vielen.
„Mann Frau Mensch“ ist ein Sachbuch und daher standen wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse an erster Stelle. Eine groß angelegte Recherche, das intensive Durchdenken und das Zusammenstellen der entscheidenden Thesen und Informationen sind dabei unverzichtbar. Denn erst die Perspektive und die Kombination der Sichtweisen ermöglichen so etwas wie eine Relevanz: Wichtig sind dabei sprachliche Anschaulichkeit und wissenschaftliche Präzision, aber auch, dass Erfahrung und Wissen im Alltag zusammenfallen.
Kurz gesagt: Nicht nur sprachlich ist das Geschlecht eine riesige emotionale und rationale Herausforderung. Auch als Autor habe ich während des Nachdenkens, Recherchierens und Schreibens ungewohnte Perspektiven auf das Geschlecht eingenommen und gerade dadurch neue Erkenntnisse und Klarheit darüber gewonnen. So etwas ist natürlich kein Selbstläufer und man muss sich schon darauf einlassen wollen, um wirklich neue Sichtweisen zu entwickeln. Letztendlich ist es aber ein sehr befreiender Prozess und ich hoffe sehr, dass es den Leser*innen genauso geht.
BK: Schon im Titel machen Sie ja neben den binären Kategorien Mann und Frau noch die „Kategorie“ Mensch auf und die war für mich dann auch ein Fazit des Buches. Brauchen wir überhaupt noch Kategorien und eine Einteilung in Männer und Frauen?
JB: Erst einmal gibt es die Kategorien ja und sie sind auch nicht per se falsch. Wenn wir einen Menschen allerdings aufgrund seines Geschlechts bewerten, machen wir möglicherweise Fehler. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemanden zum Beispiel unterschätzen oder überschätzen ist sehr viel höher, wenn wir eine Person nach geschlechtertypischen Kriterien beurteilen.
Mit der Fokussierung auf das Geschlecht schränken wir aber auch unsere Wahrnehmung und Empfindung ein. Das fängt schon damit an, dass wir Männer ganz selbstverständlich für männlich halten und Frauen für weiblich. Damit reduzieren wir Menschen jedoch auf Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Gleichzeitig verbinden wir mit den Eigenschaften „männlich“ und „weiblich“ meist eine bestimmte Form von Sexualität. Dabei sagt die Geschlechtsidentität (m/w) über die Sexualität erst einmal gar nicht so viel aus. Oftmals tun wir so, als seien Geschlecht und sexuelle Orientierung ein und dieselbe Sache. Und dann stärkt die binäre Frau-Mann-Kategorisierung die Tatsache, dass sich die Geschlechter als grundsätzlich verschieden wahrnehmen. Frauen und Männer sind oftmals fest davon überzeugt, anders zu sein. Als Frau kann man niemals das Denken und Fühlen eines Mannes nachvollziehen und umgekehrt.
Besonders problematisch und unsachlich finde ich es vor diesem Hintergrund, wenn Feminist*innen behaupten, feministische Themen seien Frauensache. An dieser Stelle kann die erlebte „Andersartigkeit“ tatsächlich in die Irre führen, denn „feministisches Denken“ ist ja nicht per se eine weibliche Eigenschaft oder Fähigkeit. Feminismus könnte als Idee und Theorie in unserer Gesellschaft gar nicht funktionieren, wenn Männer ihn nicht auch begreifen, erleben und im Alltag umsetzen könnten.
BK: Sie gehen im Buch auch auf die Bedeutung fiktionaler Medien ein, zum Beispiel auf den Bechdel-Test, mit dem man überprüfen kann, ob Geschlechter (oder andere Merkmale) in erzählenden Medien gleichberechtigt dargestellt werden. Auch abseits davon gibt es ja haufenweise Figuren, die Geschlechterklischees bestätigen – in vielen Kinderbüchern arbeiten die Väter und die Mütter kümmern sich um die Kinder, Ritter befreien Prinzessinnen… Wie schlimm ist denn der Einfluss solcher Medienbilder auf uns?
JB: Viele Menschen leiden darunter, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend nicht die richtigen oder zu wenige Vorbilder hatten. Und ja, es kann eine sehr verunsichernde und nachhaltige Erfahrung sein, wenn man irgendwann in seinem Leben feststellt, dass man gar keine oder die falschen Vorbilder hatte. Trotzdem wurde man geprägt und es ist manchmal sehr schwierig, alte Denk- und Gefühlsmuster zu verändern.
Unsere Medien spielen dabei eine Rolle, genauso wie unser familiäres Umfeld, unsere biografisch geprägte Persönlichkeit und der kulturelle Einfluss, dem wir alle ausgesetzt sind. Zum Verhältnis der Geschlechter in den deutschen Medien gab es zuletzt eine sehr wichtige Studie, die von der Schauspielerin Maria Furtwängler initiiert wurde und über die sie in einem Interview mit ZEIT online gesprochen hat. Die Ergebnisse sprechen für sich: Männer sind doppelt so häufig zu sehen wie Frauen und im Kinderfernsehen ist das Ungleichgewicht besonders stark ausgeprägt.
Eine vorläufige Schlussfolgerung aus dieser Studie lautet: Wir leben immer noch in einer Kultur, in der es normal ist, dass Jungen und Mädchen in den Medien viele männliche Vorbilder haben, aber nur wenige weibliche Vorbilder. Ein Grund hierfür könnte sein, dass sich Jungen nicht so gut mit weiblichen Figuren identifizieren können. Mädchen gelten in dieser Hinsicht anpassungsfähiger, weil sie sich angeblich genauso gut an männlichen Vorbildern orientieren können.
Für eine wissenschaftliche Bestätigung dieser Thesen fehlt uns allerdings die empirische Basis: Vielleicht hatten Mädchen bisher einfach weniger Chancen, sich mit weiblichen Vorbildern zu identifizieren? Vielleicht können Jungen sich genauso anpassen und von weiblichen Figuren lernen? Möglicherweise wäre es auch für die Entwicklung aller Kinder förderlich, wenn sie sich an weiblichen und männlichen Vorbildern orientieren? An diesen Stellen werden wir als Gesellschaft in Zukunft sehr viel Kreativität, Experimentierfreude und Kraft einsetzen müssen, um neue Figuren, Drehbücher und Strukturen zu etablieren, die Vorbildfunktionen jenseits von Geschlechterklischees anbieten.
BK: Mein persönlicher Eindruck ist zum Beispiel, dass heute mehr rosa Prinzessinnen unterwegs sind als in meiner Kindheit, da war Pippi Langstrumpf vielleicht noch wichtiger. Muss man dagegen etwas tun?
JB: Ja, wir betonen die Andersartigkeit der Geschlechter viel zu stark. Wir diskutieren zwar über Diversität und Vielfalt, vergessen jedoch dabei, was uns verbindet und was uns als Individuen ausmacht. Es geht nicht nur darum, anders zu sein und anders zu fühlen. Ein Mann würde dann seine Männlichkeit entwickeln und eine Frau ihre Weiblichkeit. Zur Vielfalt gehört auch, selbst vielfältig zu werden und die Vielfalt in sich zu entdecken. Vielfalt leben meint somit, dass man sich selbst und andere dabei unterstützt, die eigene Vielfalt zu entwickeln. Das wiederum setzt voraus, geschlechtsübergreifend denken, werten und fühlen zu können und sich und andere nicht auf ein Geschlecht zu beschränken. Das heißt nicht, dass man nicht gerne Frau, Mann oder ein anderes Geschlecht sein darf. Man kann ja gerne das Geschlecht sein, das man geworden ist, aber es gibt eben viele Männlichkeiten und sehr viele unterschiedliche Weiblichkeiten.
Genau das bedeutet auch Vielfalt, dass man die größtmögliche Menge an Geschlechtsidentitäten akzeptiert und wahrnimmt. Das setzt wiederum voraus, dass man sich nicht nur über sein Geschlecht definiert, von seiner eigenen Geschlechtlichkeit und der des anderen abstrahieren und sich in andere Geschlechter hineinversetzen kann. Ich sage hiermit also nicht, dass es keine Männer und Frauen gibt. Ich bestreite auch nicht, dass sich die meisten Menschen als Frau oder Mann identifizieren. Ich bezweifle allerdings, dass dies immer mit einem eindeutigen Gefühl von weiblich oder männlich einhergeht.
BK: Wie kam es eigentlich, dass Sie „Mann Frau Mensch“ geschrieben haben?
JB: Am Anfang stand der Wunsch, ein Buch über Identität zu schreiben. Wie erlebe ich meine Identität im Alltag und welche Rolle spielt dabei mein Geschlecht? Dazu kam dieses Schlüsselerlebnismit den Student*innen aus meinem Seminar „Gibt es einen Geschlechterkampf?“, das ich oben beschrieben habe. Und dann habe ich in zahllosen Gesprächen mit meiner Lektorin Matthea Dörrich viel Inspiration, Ermutigung und Anregung erfahren. Bei der gemeinsamen Erarbeitung entstand das Konzept für ein Buch, in dem wir das Thema Geschlecht philosophisch und soziologisch reflektierend angehen wollten, gemischt mit persönlichen und künstlerischen Stimmen. Das Konzept habe ich dann mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen im Austausch mit anderen ausgefüllt.
Auch die Struktur, die es jetzt hat, ist das Ergebnis eines längeren Prozesses: vom Ich über die anderen, Liebe, Körper, Beruf bis zur Gesellschaft. Im Prinzip alle Lebensbereiche, in die das Geschlecht hineinwirkt. Wir haben uns gemeinsam dafür entschieden, das Buch möglichst offen zu gestalten, aber dabei an gewissen Konventionen (zum Beispiel sprachlicher Art) festzuhalten, um damit wirklich alle anzusprechen, nicht nur eine bestimmte Gruppe. Denn jeder hat ein Geschlecht.
Viele Menschen haben allerdings das Gefühl, mit ihren Problemen allein dazustehen, vor allem, wenn es um ihre Identität und ihr Geschlecht geht. Es ist aber für jeden Menschen wichtig zu erkennen, dass wir mit vielen Gefühlen und Situationen eben nicht alleine da stehen: das ist etwas, das alle Menschen miteinander verbindet, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Wer sich selbst auf sein Geschlecht reduziert und von seiner persönlichen Geschlechtsidentität nicht abstrahieren kann, ist in einer bestimmten Hinsicht beschränkt. Ein Mensch, der nicht geschlechtsübergreifend denken und sich in andere Geschlechter hineinfühlen kann, hat eine entscheidende Entwicklung nicht gemacht. Und wer andere auf ihr Geschlecht reduziert, schränkt auch diese in ihrer Entwicklung möglicherweise ein. Das gleiche gilt für sich selbst: Wer nicht von seiner eigenen Geschlechtsidentität abstrahieren kann, tendiert dazu, sich selbst zu behindern und zu blockieren. Zu exklusiv aufgefasste Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit können dazu führen, dass man sich in seiner Entwicklung selbst sabotiert.
BK: Nun zum Abschluss unsere bücherstädtischen Fragen: Wenn Sie selbst ein Buch wären, was für eines wären Sie dann und warum?
JB: Ein Buch, das die Welt erkennt, aber nicht verändern will.
BK: Gibt es eine Frage, die Sie sich schon immer für ein Interview gewünscht haben? Und was ist Ihre Antwort darauf?
JB: Eine Frage finde ich für unser Thema spannend, die mir wahrscheinlich nur sehr selten gestellt würde: Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Frau, hätten Sie dann das gleiche Buch geschrieben?
Das ist mehr als ein spekulatives Gedankenexperiment, denn ich glaube, dass sich jeder Mensch in eine andere Person hineinversetzen kann. Als weibliche Autorin wäre mein sprachlicher Ausdruck hier und da vielleicht anders. Vielleicht hätte ich als Frau eher Psychologie studiert und nicht Philosophie. Vielleicht hätte ich auch dadurch hier und da ein anderes Beispiel gewählt und meine Perspektiven hätten an manchen Stellen eine andere Färbung. Aber inhaltlich wäre das gleiche Buch mit den gleichen Thesen und Perspektiven rausgekommen. Als Frau hätte ich wahrscheinlich mit männlichen Lektoren zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass auch die männliche Perspektive gleichberechtigt vertreten wäre. Wäre ich eine Frau, hätte ich genauso wie als Mann darauf geachtet, dass weibliche, männliche und menschliche Perspektiven vorkommen und sich gleichberechtigt ergänzen. Denn jeder Mensch kann geschlechtsübergreifend denken, fühlen und handeln.
BK: Vielen Dank für das Interview!
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