Schmöker gegen die Leseflaute

von | 03.05.2024 | Belletristik, Buchpranger

Vielleicht kennt ihr das auch? Ihr habt gar keine rechte Lust zu lesen, doch dann kommt plötzlich genau das richtige Buch und – zack! – macht das Lesen wieder richtig viel Spaß. Worteweberin Annika stellt deutschsprachige Romane mit Schmöker-Garantie vor, die auch was fürs Köpfchen sind.

„Drifter“

In „Drifter“ erzählt die Berliner Schriftstellerin Ulrike Sterblich eine absurd witzige, sprachschön formulierte Großstadtgeschichte. Zwei Freunde, Wenzel und Killer, haben gemeinsam ihren Weg aus der Hochhaussiedlung heraus ins hippe Zentrum gemacht. Sie sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich, doch nun werden die Dynamiken zwischen beiden auf den Kopf gestellt. Einerseits, weil Killer sich stark verändert: Bei einem Ausflug zur Pferderennbahn wird Killer vom Blitz getroffen. Von da an ist sein „Killerinstinkt“ passé. Er kündigt seinen gut bezahlten Job als PR-Chef, schmeißt sein „Smartie“ (Handy) vom Balkon und geht zurück ins Hochhaus. Gleichzeitig macht Wenzel die Bekanntschaft der ominösen Vica. Warum hat sie ein Buch von Wenzels Lieblingsschriftsteller Drifter, das sonst noch niemand kennt? Wieso weiß sie so viel über die Freunde? Und wieso kann ihr riesenhaft großer Hund so verdammt gut tanzen?

Ulrike Sterblich paart hier eine hintersinnige, sozialkritische Geschichte mit fantastischen Elementen und viel Humor und Situationskomik. Ihre sehr besonderen Figuren muss man einfach – irgendwie – gernhaben. Dazu erzählt die Autorin in lockerem, coolen Ton und es macht großen Spaß, ihr durch alle absurden Wendungen zu folgen. Für mich war „Drifter“ im letzten Jahr ein großes Highlight.

„Das Summen unter der Haut“

Sommer, Freibad, erste Liebe: Stephan Lohse erzählt in „Das Summen unter der Haut“ eine Coming of Age Story aus den Siebzigern. Julle, vierzehn Jahre alt, fühlt sich direkt zu Axel hingezogen, als er neu in die Klasse kommt. Axel sieht toll aus und ist gerade mit seinem Vater in eine Wohnung im Plattenbau am Ring gezogen, nachdem seine Mutter verstorben ist. Von nun an ist er dabei, wenn sich die Jugendlichen am Freitagnachmittag im Freibad treffen und zieht mit Julle los, um die Umgebung zu erkunden. Ihnen bleiben ein paar gemeinsame Wochen im Sommer, in dem sie eine seltsame Entdeckung machen und Julle sein schwules Coming Out erlebt – obwohl Axel für ihn unerreichbar bleibt.

In kurzen Kapiteln, lockerem Ton und mit sehr viel Witz erzählt Stephan Lohse aus der Perspektive seines jugendlichen Ich-Erzählers. Mit viel Leichtigkeit gelingt es ihm, queere Scham, große Unsicherheit, patriarchale Familienstrukturen und die Trauer um einen Verlust zu beschreiben. Trotzdem bleibt der Roman fast märchenhaft, denn ein wirkliches Coming Out in den Siebzigerjahren wäre wohl niemals so glatt gelaufen. Mitfühlen, mitlachen, mitfiebern und sich an die eigene Jugend erinnern – „Das Summen unter der Haut“ ist ein easy read mit Anspruch und damit das optimale Buch nach einer Leseflaute.

„Adas Raum“

Der erste Roman von Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo, „Adas Raum“, ist eine rasante, lustige und kluge Odyssee durch die Zeiten. Wir verfolgen darin Ada durch verschiedene Leben – im Roman „Schleifen“ genannt: Sie lebt im 15 Jahrhundert in Westafrika, als Mathematikerin Ada Lovelace im London im Jahr 1848, als Prostituierte im Lager Dora-Mittelbau im Jahr 1945 – und sucht als schwangere Schwarze eine Wohnung in Berlin im Jahr 2019. Sie ist viele, aber doch ist sie auch eine einzige Frau, folgt einem Schicksal, das sich, so scheint es, immer wiederholt und in allen Schleifen in einem Armband manifestiert.

Der Roman ist reich an Themen. Es geht zum Beispiel um Kolonialismus an der afrikanischen Goldküste, Rassismus im heutigen Europa, Säuglingstod, weibliche Lebensentwürfe und Perspektiven. Alle Themen, alle Zeiten und Figuren sind kunstvoll miteinander verwoben. Die Autorin experimentiert munter mit Erzählperspektiven: So kommen nicht nur Ada, sondern auch ein Besen, ein Zimmer, ein Türklopfer und ein Pass zu Wort – was für ein Einfall! Dieser Roman war für mich ein echtes Geschenk: leichtfüßig und eingängig, beste Unterhaltung und gleichzeitig toll konstruiert, fordernd und intelligent. Was will man mehr?

„Die Diplomatin“

Lucy Frickes letzter Roman, „Die Diplomatin“, war bisher mein absoluter Favorit aus ihrer Feder: Erzählt wird von Fred, einer taffen Konsulin, die schon ziemlich weit auf der Karriereleiter nach oben geklettert ist. Nach der Entführung einer bekannten Verlegerinnentochter in Montevideo wird sie in die Türkei strafversetzt und erkennt hier die Vergeblichkeit der Diplomatie. Ihre Geduld ist bald am Ende: Was kann sie für eine inhaftierte Künstlerin und ihren Sohn erreichen, noch dazu als Frau?

Klug, mit einer sympathischen Heldin mit trockenem Humor und vielen interessanten, gut recherchierten Einblicken in ein ungewöhnliches Arbeitsleben wird hier eine spannende Geschichte aufgerollt, die zum Ende hin fast schon einem Thriller gleichkommt. Auf Grund des Themas ist „Die Diplomatin“ aktuell und beklemmend. Die ungewohnte Mischung macht den Roman zu einem tollen Leseerlebnis – eine große Empfehlung!

Drifter. Ulrike Sterblich. Rowohlt. 2023.

Das Summen unter der Haut. Stephan Lohse. Suhrkamp. 2023.

Adas Raum. Sharon Dodua Otoo. S. Fischer. 2021.

Die Diplomatin. Lucy Fricke. Claassen. 2022.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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