Für das #Meinungstheater April haben sich Worteweberin Annika, Satzhüterin Pia, Zeichensetzerin Alexa und Fabelforscher Christian im Rahmen unseres #OwnVoicesBK-Jahres den Film „Seitenwechsel“ angeschaut und ihre jeweils eigene Meinung gebildet.
Der Film „Seitenwechsel“ beruht auf dem gleichnamigen Roman von Nella Larsen und erzählt von der Schwarzen Frau Clare, die beschließt, als Weiße zu leben – nicht einmal ihr rassistischer Ehemann ist im Bilde. Doch als Clare zurück nach New York kommt und auf ihre Schulfreundin Irene trifft, geraten die Leben der beiden Frauen langsam aus den Fugen: Clare möchte Teil der Schwarzen Community sein, drängt sich in Irenes Freundeskreis und ihre Ehe und sorgt bald für Eifersucht.
Worteweberin Annika: Der Film erzählt in Schwarz-Weiß-Bildern aus der Perspektive von Irene. Die Bilder nehmen sich Zeit für Momentaufnahmen: So beobachten wir beim unverhofften Wiedersehen der beiden Schulfreundinnen zu Beginn des Films jede von Irenes Regungen ganz genau. Ich fand diese Art zu erzählen ungewöhnlich, weil sie so anders funktioniert als andere aktuelle Filme, aber für mich hat sie zum Sujet gepasst. Auch dass nicht alles auserzählt wird, sondern wir als Beobachter*innen deuten können, hat mir gefallen. Allerdings hat es auch dazu geführt, dass bei mir am Ende einige Fragen offen geblieben sind. Vor allem wohl deswegen, weil ich als Weiße einige Gefühle der Figuren nicht vollständig nachfühlen kann – und schon von der Ausgangslage verwirrt war. In Schwarz-Weiß sah es für mich ziemlich eindeutig aus, dass sowohl Irene als auch Clare Schwarze Frauen sind. Oder?
Satzhüterin Pia: Filme, die man nachklingen und über die man mit jemandem reden muss, die schaue ich tatsächlich nicht so häufig. Zumindest ist mir noch kein Film wie „Seitenwechsel“ untergekommen und ich bin am Ende froh, dass es durch das #Meinungstheater einen Austausch mit anderen dazu geben konnte.
Der Film erzählt auf sehr ungewöhnliche Weise mit bemerkenswerten Bildern eine noch speziellere Geschichte. Es bleibt sehr viel Raum für Interpretation und Spekulation und sicherlich ist das in meinem Fall auch dem geschuldet, dass ich weiß bin.
„Seitenwechsel“ hat mich überraschend mitgerissen und war nicht nur wegen der vergleichsweise kurzen Spielfilmlänge extrem kurzweilig. Neben der Darstellung in Schwarz-Weiß, der ungewöhnlichen Erzählweise und Thematik, fand ich auch die Musik bemerkenswert. Das Klavierklimpern hat eine besondere Stimmung geschaffen.
Zeichensetzerin Alexa: „Seitenwechsel“ hat mich tief beeindruckt. Dieser Film erzählt so viel, explizit und zwischen den Zeilen, dass ich nach dem Schauen erst einmal einen großen Gesprächsbedarf hatte. Vor allem eine Szene zum Ende hin hat mich beschäftigt: In Sekundenschnelle wurde eine nicht eindeutig interpretierbare Handlung gezeigt, die enorme Auswirkungen auf den weiteren (Lebens-)Verlauf der Protagonistinnen hat. Immer und immer wieder habe ich zurückgespult und mir diese Szene angesehen, pausiert, analysiert, mir Gedanken gemacht. Ich wollte verstehen, wie es dazu kam; ob die Handlung bewusst oder unbewusst vollführt wurde. Eine klare Antwort bekam ich nicht. Das ist einerseits unbefriedigend, und andererseits faszinierend, weil mir Filme heutzutage immer seltener solche Szenen bieten, die mich derart zum Nachdenken bringen.
„Seitenwechsel“ ist einer dieser Filme, die sich und den Zuschauer*innen Zeit lassen: Zeit zum Erzählen, Zeit zum Betrachten, Zeit zum Einfühlen. Da ist so viel Zeit und Ruhe zum Wahrnehmen – von Gestik, Mimik, der Umgebung, weiteren Akteur*innen, die sonst unsichtbar geblieben wären. Zeit zum Interpretieren des Dargestellten, der Räume, der Umgebung und Bewegung oder des Stillstands.
Die Umsetzung in Schwarz-Weiß ist in mehrfacher Hinsicht passend, nicht nur wegen der Zeit, in der die Handlung spielt, der 1920er, sondern auch aufgrund des thematisierten Konflikts: Es geht um die zwei Afroamerikanerinnen Irene Redfield und Clare Kendry, die aufgrund ihrer hellen Hautfarbe als Weiß durchgehen (könnten). Während Irene sich dagegen entschieden hat, gibt sich Clare als Weiße aus. Als sich die ehemaligen Schulfreundinnen viele Jahre später wiedersehen, merkt Clare, was ihr gefehlt hat. Ihr Bedürfnis danach, mehr Zeit unter Schwarzen zu verbringen, wird zunehmend stärker. Sie nimmt einen immer größeren Platz in Irenes Leben ein.
„Seitenwechsel“ ist ein Film voller Mehrdeutigkeiten und widmet sich dem komplexen Thema Identität: Wie nehmen sich die Protagonistinnen selbst wahr und wie werden sie von anderen gesehen? In welche Rollen werden sie gedrängt und welche nehmen sie von sich aus ein? Sehr eindrücklich zeigt der Film, wie sich innere und äußere Konflikte bilden – und was gesellschaftliche Erwartungen damit zu tun haben.
Fabelforscher Christian: Ich habe schon so einige Filme gesehen, aber „Seitenwechsel“ war definitiv etwas Neues. Aufgrund des Formats und der Schwarz-Weiß-Optik war ich zu Anfang sofort an „The Artist“ erinnert, doch damit waren die Gemeinsamkeiten auch bereits ausgeschöpft. Der Film machte es mir besonders zu Beginn nicht leicht zu erkennen, welche Hautfarbe die Personen im Bild gerade haben. Die unterschiedliche Ausleuchtung der Szenen, von strahlend hellem Sonnenschein bis zu geradezu schemenhaften Darstellungen in finsteren Innenräumen, trugen ihren Teil dazu bei. Wirklich sicher, ob die Personen nun Schwarz oder weiß waren, war ich mir vor allem bei Clare erst, als sie selbst es sagt. Der Film hat mich offen gestanden etwas überfordert und es fällt mir schwer, nach einmaligem Schauen ein Urteil zu bilden. Zwischendurch fand ich ihn recht langatmig, aber wohl vor allem deshalb, weil ich auf Erklärungen und Antworten wartete – (leider) vergeblich. Am Ende bleibt vieles offen und großer Diskussionsbedarf. Ich werde „Seitenwechsel“ wohl erstmal sacken lassen und ihn mir mit genügend Abstand und Vorwissen noch einmal ansehen.
Seitenwechsel. Regie & Drehbuch: Rebecca Hall. Mit Ruth Negga, Tessa Thompson, Alexander Skarsgård u.a. USA. Netflix. 2021. FSK 12.
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